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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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kann, das sich an der Tischplatte zu einer schiefen Grimasse zusammenschiebt. »Oskar hatte recht. Ich weiß nichts von Schuld.«
    Das Schluchzen scheint aus einer anderen Richtung zu kommen, klein und leise wie von einem Kind, das irgendwo im Raum zu wimmern beginnt. Sebastian vergittert das Gesicht mit zehn gespreizten Fingern. Sein Mund verzieht sich zu einer rechteckigen Öffnung und entlässt einen tonlosen Schrei, der den ganzen Körper schüttelt. Der Kommissar begräbt den Zitternden unter sich, hält seine Schultern, spürt die Krämpfe, die ihn durchlaufen, und könnte nicht mit Sicherheit sagen, ob Sebastian lacht oder weint. Es gibt einen Nullpunkt, an dem alle Gegensätze ineinanderstürzen. Minuten vergehen, bis auch dieser Anfall vorüber ist. Schilf bückt sich nach einem Wasserkessel, der unter den Tisch gerollt ist, und stellt ihn auf den Herd.
    »Heute Nacht«, sagt er, als das Wasser zu singen beginnt, »brauchen die Kommissarin Skura und ich Unterstützung. Kann ich auf Sie zählen?«
    »Sie haben mich vernichtet«, sagt Sebastian mit einer Stimme, die eigens für diesen Augenblick erfunden wurde. »Ich gehöre Ihnen.«
    »Schön«, sagt Schilf.
    Während er mit der einen Hand kochendes Wasser in die Tassen gießt, holt er mit der anderen sein Handy aus der Tasche und drückt eine Taste.
    »Guten Abend«, sagt er ins Telefon. »Hier spricht Kommissar Schilf. Es gibt noch eine Partie, die wir zu Ende bringen müssen.«

5
    I m Grunde hätte Rita wissen können, dass dies der seltsamste in einer ganzen Reihe von seltsamen Tagen werden würde. Am Morgen, während sie bei einem schnellen Frühstück saß, übergab sich die Katze auf den Küchentisch. In dem Erbrochenen waren Stücke des Geflügelsalats zu erkennen, von dem Rita am Vorabend ebenfalls gegessen hatte. Ihr wurde übel. Nach Schnurpfeils Anruf aus Gwiggen fühlte sie sich schlagartig besser. Der Fall war gelöst, die Beweislage stimmte, die endgültige Beurteilung würde wie immer Sache des Richters bleiben. Den halben Nachmittag schrieb die Kommissarin an ihrem Bericht für Staatsanwaltschaft und Innenministerium und schaffte es trotzdem nicht, jenes Hochgefühl zu entwickeln, das zum Abschluss eines schwierigen Falls gehört. Als das Telefon klingelte, wusste sie, warum. Vielleicht hatte sie geglaubt, mit der ganzen Sache fertig zu sein. Kommissar Schilf war es noch nicht.
    Gegen einen Hilfeschrei kann man nicht kämpfen. Rita hat sich, wie Schilf es wünschte, von der Schutzpolizei einen Mannschaftswagen geliehen. Den schnauzbärtigen Polizeipräsidenten hat sie ein weiteres Mal hingehalten und bei ihrer Karriere geschworen, bis zum nächsten Morgen einen lückenlosen Bericht vorzulegen, in dem folgende Begriffe nicht auftauchen würden: Arzt, Patient, Krankenhaus. Jetzt sitzt sie auf der Rückbank des Mannschaftswagens neben einem geständigen Mörder und weiß, dass ihre berufliche Zukunft, wie man so sagt, an einem seidenen Faden hängt. Wenn sie darüber nachdenkt, zu welcher Sorte Netz dieser Faden gehört, ist ihr völlig klar, warum sich die Übelkeit wieder eingestellt hat und nicht mehr weichen will.
    Erst haben Schnurpfeil und sie vor dem Haus am Gewerbebach gehalten, um Schilf und den Mörder einsteigen zu lassen. Letzterer brachte eine blau-weiße Kühlbox mit. Aus Ex-Familien-Besitz, erklärte er statt einer Begrüßung, während er zu Rita auf die Rückbank kletterte. Danach befahl der Kommissar einen Zwischenstopp im Radsportclub und beschlagnahmte ohne jede rechtliche Grundlage zwei Rennräder, die sich nun wie Diebesgut im Kofferraum des VW-Busses befinden. Nächster Halt war die Gerichtsmedizin. Seit sie dort fertig sind, sieht der Mörder mit verzücktem Blick vor sich hin, balanciert die Kühlbox auf den Knien und streicht gelegentlich über den blauen Deckel. Den Gedanken daran, was die Box enthält und wie es da hineingekommen ist, muss sich Rita verbieten, um nicht durchzudrehen. Schnurpfeil scheint es ähnlich zu gehen. Er steuert den Wagen weiter auf Schilfs Anweisung durch die Innenstadt, nimmt die Kurven zu heftig und bremst so nervös, dass sich die Insassen im Gleichtakt verneigen und wieder aufrichten.
    Aber am schlimmsten von allem ist die Stimme des Ersten Kriminalhauptkommissars. Geduckt kauert Schilf auf dem Beifahrersitz und redet gegen die Windschutzscheibe, von Zweigen und Teichen und Paralleluniversen und ähnlich wirrem Zeug. Der wahnhafte Monolog lässt die Kommissarin endgültig wünschen,

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