Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
fragt Sebastian, »bloß weil ich im SPIEGEL erschienen bin?«
    »Mit Photo«, sagt Liam.
    » Mais non .« Als Oskar über Liams Scheitel streicht, richten sich einzelne Haare auf, um der elektrostatischen Ladung seiner Hände zu folgen. »Ich werde es wie immer genießen, zu Besuch in deinem Leben zu sein.«
    Sie wechseln noch einen flüchtigen Blick, während Liam an Oskars Pullover zerrt, um ihn in Bewegung zu setzen.
    »Na los, Quantenfüßiger!«, ruft er und freut sich, als Oskar lacht. Als zweiköpfiges Wesen mit nur einem Beinpaar schwanken sie dem Tisch entgegen.
    »Übrigens habe ich etwas für dich«, sagt Oskar über die Schulter zu Sebastian. »Einen offiziellen Fehdehandschuh.«
    Er dreht mit Liam eine Extrarunde um den Tisch und lässt sich von Maike, die Kerzen auf Leuchter steckt, einen Stuhl zuweisen, obwohl er natürlich weiß, wo er sitzt.
    »Fehdehandschuh«, murmelt Sebastian, der am Fenster stehen geblieben ist. »Und ich weiß auch schon, wer die Waffen wählen wird.«
    Er schaut in die Kronen der Kastanien, in denen die Spatzen lärmen, und überlegt, ob das Gezwitscher, auf Band aufgenommen und rückwärts abgespielt, vielleicht menschliche Worte ergäbe. Eine endlose Rede. Einen Roman pro Vogel und Tag.

5
    M it langen Armen, in deren Sonnenbräune ein kurzärmeliges Sporthemd seine hellen Abdrücke hinterlassen hat, verteilt Maike Rucola-Salat aus einer Schüssel. Sie pustet eine Strähne aus der Stirn, um Oskar einen bittenden Blick zuzuwerfen.
    »Und«, fragt sie, »was macht der Teilchenbeschleuniger?«
    »Ach, Maik.«
    Gleich beim ersten Treffen hat Oskar ihrem Namen das abschließende »e« verweigert; seitdem hält er an der Kurzform fest. Jedes Mal, wenn Maikes Augen den seinen begegnen, bringt wechselseitiger Spott ihre Gesichter zum Leuchten, so dass ein flüchtiger Beobachter auf die Idee kommen könnte, sie seien heimlich ineinander verliebt.
    »Du weißt, dass ich zehn Jahre gebraucht habe, um mich an deine Existenz auf Bohrs Erde zu gewöhnen …«
    »Was ist Bohr?«, fragt Liam dazwischen.
    »Ein großer Physiker«, sagt Oskar. »Wer die Welt erklären kann, dem gehört sie.« Er legt einen Finger an die Nase, als müsste er eine Taste drücken, um zu seinem Thema zurückzufinden. Als es gelungen ist, zeigt er auf Maike. »Wenn du schon da bist, dachte ich irgendwann, kannst du wenigstens auf Sebastian aufpassen. Und was machst du? Erbärmlich schlechte Arbeit. Er blamiert sich in aller Öffentlichkeit.«
    Maike zuckt mit der linken Schulter, wie sie es immer tut, wenn sie nicht weiterweiß.
    »Setz dich doch«, sagt sie zu Sebastian, der an den Tisch getreten ist, während Oskar sie mit einem Ausdruck betrachtet, als kenne er einen guten Witz über sie, den er nur aus Höflichkeit nicht erzählt.
    Sebastian rückt einen Träger von Maikes Kleid zurecht und streicht das Haar an ihrem Hinterkopf glatt, bevor er seinen Stuhl heranzieht. Wenn Oskar da ist, berührt er sie häufiger als sonst. Er ärgert sich darüber und kann es trotzdem nicht lassen. In diesem Augenblick wünscht er sogar, sie möge die Salatschüssel abstellen und zum Fenster gehen, damit Oskar sehen kann, wie das Gegenlicht den Flaum auf ihren Wangen zum Leuchten bringt und die Silhouette ihres Körpers unter dem Kleid wie auf eine Leinwand projiziert. Oskar soll sehen, dass Maike etwas Seltenes ist, etwas, das man bewacht und um das man beneidet wird. Er findet solche Gedanken abstoßend, und noch abstoßender ist die Tatsache, dass Maike sich nicht an seinem veränderten Benehmen stört, sondern kokett die Augen aufschlägt und ihre Stimme um eine halbe Oktave in die Höhe schraubt.
    »Fangt an.«
    Oskar breitet die Serviette bei erhobenen Ellenbogen über den Schoß, ganz ähnlich, wie er früher die Jackenschöße zurückwarf, bevor er sich setzte.
    »Im Übrigen«, sagt Sebastian betont, um einen Themawechsel anzuzeigen, »ist mein Streit mit Oskar von hoher Aktualität.«
    »Wie schön für euch.« Maike knickt Salatblätter mit Messer und Gabel zu einem ordentlichen Päckchen. »Dann gibt’s vielleicht Leute, die wissen, worum es eigentlich geht.«
    »Ich hielt das eher für alte Kamellen«, sagt Oskar.
    »Gar nicht«, behauptet Sebastian. »Letztlich geht es um Wissenschaft und Moral. Ein Dauerbrenner. Denkt doch mal an den Medizinerskandal.«
    »Darüber weiß ich nichts.«
    »Am Universitätsklinikum verbluten Herzpatienten während der Operation. Es gab eine Strafanzeige. Angeblich wurden

Weitere Kostenlose Bücher