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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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deine populärwissenschaftlichen Anstrengungen. Wenn dir die Öffentlichkeit so wichtig ist …«
    Liam, der mit Krümeln an den Lippen zurückkommt, bezieht Sebastians wütende Handbewegung auf sich. Mit herausforderndem Grinsen drängt er sich auf Oskars Schoß.
    »Bist du dafür nicht langsam zu alt?«
    »Ich nicht«, sagt Liam. »Höchstens du.«
    »Weißt du«, sagt Oskar zu Liam, »dass sich immer, wenn du einen Keks stiehlst, eine zweite Welt abspaltet, in der du den Keks nicht gestohlen hast?«
    »Die Paralleluniversen«, nickt Liam. »Wenn Mama fragt, ob ich genascht habe, antworte ich immer: Ja und nein. Aber das funktioniert nicht.«
    Oskar beginnt zu lachen und wischt sich mit dem Handrücken die Augen.
    »Wie recht du hast!«, ruft er. »Wenn du erlaubst, werde ich dich morgen Abend zitieren.«
    »Morgen Abend?«, fragt Sebastian.
    »Was machst du am Wochenende?«, fragt Oskar.
    Sebastian steht auf, um ihm einen Aschenbecher zu holen.
    »Am Sonntag bringt er mich ins Pfadfinderlager«, sagt Liam.
    »Und danach«, Sebastian knallt den Aschenbecher auf den Tisch, »verbarrikadiere ich mich im Arbeitszimmer und stelle die Sache vom Kopf auf die Füße.«
    »Wie soll das Wunderwerk denn heißen?«
    »Eine Langzeitbelichtung, oder: Vom Wesen der Zeit.«
    »Das passt zu dir.« Oskar unterdrückt den nächsten Lachanfall. »Und was macht Maik?«
    »Drei Wochen Rad fahren in Airolo. Also, was ist morgen Abend?«
    Oskar macht eine geheimnisvolle Handbewegung.
    »In Airolo?«, wiederholt er. »Allein?«
    »Hast du gedacht, ich nehme meinen Oberarzt mit?«
    Maike ist unbemerkt hereingekommen und stellt eine Schüssel Tortellini auf den Tisch. Als Sebastian eine flache Hand hebt, gibt sie ihm mit Seitenblick auf Oskar high five. Empört über den Verlust der Mittelpunktstellung, strampelt Liam mit den Beinen und rutscht von Oskars Schoß. Dieser steht auf, geht, den Aschenbecher ignorierend, zum Fenster und schaut zu, wie die Kippe in den Gewerbebach stürzt und von der Strömung davongetragen wird. Bonnie und Clyde sind nicht zu sehen.
    »Apropos Urlaub.« Maike hilft Liam, Kerzen anzuzünden, deren Flammen im Abendlicht fast unsichtbar sind. »Vielleicht brauchst du auch mal eine Pause. Für deine Verhältnisse siehst du schlecht aus.«
    Die Hände in den Taschen, schlendert Oskar an den Tisch zurück.
    »Schlaflosigkeit«, sagt er.
    »Ich schlag dir das Bett im Arbeitszimmer auf. Da ist es ruhig.«
    »Der Arzt hat mir was gegeben.« Oskar klopft sich auf die linke Leibseite, als trüge er ein Jackett mit Innentasche.
    »Mir auch!«, ruft Liam und rennt aus dem Zimmer, bevor ihn jemand daran hindern kann. Eine Tür schlägt, im Bad wird eine Schublade aufgezogen. Als Liam zurückkommt, trägt er ein Plastikkästchen auf der flachen Hand.
    »Reisekrankheit«, erklärt Maike. »Auf längeren Fahrten kotzt er sich die Seele aus dem Leib.«
    »Eine für hin, eine für zurück«, sagt Liam stolz.
    Ernsthaft mustert Oskar die Tabletten.
    »Sehen genau aus wie meine«, sagt er. »Solche Leiden sind die Kehrseite außergewöhnlicher Begabungen.«
    »Echt?« Liams Augen werden rund und zeigen Glanzpunkte in den Pupillen.
    »Genug davon«, unterbricht Sebastian.
    Oskar hat sich hingesetzt, spießt eine Nudel auf und hält die Gabel wie einen Zeigestock in die Luft.
    » Mes enfants «, sagt er. »Es gibt Gebiete des Denkens, die man nicht ungestraft betritt. Kopfschmerzen und ein schlechter Charakter sind der Mindestpreis. Ich weiß, wovon ich spreche. Liam.« Als er eine Hand ausstreckt, legt Liam die seine schnell hinein. »Deine Eltern sind nett. Aber ein bisschen zu normal, um zu wissen, was echte Begabung bedeutet.«
    »Du sollst ihm keine Schwachheiten einreden«, sagt Maike wütend.
    »Sag mal«, nachdenklich kaut Oskar auf seiner Nudel, »ist da eigentlich auch Rucola drin?«

6
    I n der Dämmerung wird das Geplapper der Meisen lauter. Sie haben eine Menge zu besprechen. Um die Laterne, die noch immer nicht brennt, tanzt eine Wolke Mücken, offenbar angezogen von der bloßen Erinnerung an Licht. Zwei Mauersegler im zackigen Jagdflug teilen diese Erinnerung gern.
    Drinnen hat der späte Abend den Wänden Rouge aufgelegt. Klimpernd musizieren Löffel auf den Desserttellern; fast schwarz wirkt der Wein in den Gläsern. Liam hat Redeverbot und wird von seiner schmollenden Unterlippe beim Verzehr der Nachspeise behindert. Maike stützt das Kinn in die Hand und dreht den Löffel um, wenn sie Schokoladencreme

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