Schilf
unzulässige Mittel ausprobiert, die die Blutgerinnung hemmen.«
»Natürlich, euer Freiburger Mengele!« Nach jedem Bissen betupft sich Oskar die Lippen mit der Serviette. »Selbst der Pöbel im Zug spricht darüber.«
»Was ist ein Mengele?«, fragt Liam, der im Kampf gegen die Salatblätter noch keinen einzigen Gegner bezwungen hat.
»Das ist jetzt nicht so wichtig«, sagt Maike schnell.
»Immer, wenn’s nicht so wichtig ist, geht es um Sex oder um Nazis!«, kräht Liam.
»Sei nicht oberschlau!«, sagt Maike.
Sofort wirft Liam die Gabel beiseite.
»Die Nazis haben Drahtseile über die Straße gespannt, um den Amis im Cabrio den Kopf abzuschneiden. Das hab ich im Fernsehen gesehen!«
»Iss deinen Broccoli«, sagt Sebastian.
»Das ist Rucola «, sagt Maike.
»Ich glaube nicht, dass es sich um Patientenversuche handelt«, fährt Sebastian fort, bemüht, das Gespräch in Gang zu halten. »Die Pharmaindustrie wäre doch nicht so dreist, damit fortzufahren, bei dem ganzen Pressewirbel …«
»Müssen wir darüber reden?«, unterbricht Maike.
Erstaunt hebt Oskar den Kopf.
» Ça va , Maik?«
»Mama kennt den Mörder!«, ruft Liam.
»Gleich gehst du ins Bett!«
»Du redest Unsinn, Liam«, sagt Sebastian, der noch nichts gegessen, dafür sein zweites Glas Wein getrunken hat. »Mama kennt einen Oberarzt aus Schlüters Abteilung.« Und zu Oskar: »Schlüter ist der Chefarzt unter Verdacht. Er sieht seiner Suspendierung entgegen. Wegen Körperverletzung mit Todesfolge.«
Oskars Miene hellt sich auf.
»Maiks Radsportfreund! Der arbeitet im Krankenhaus. Wie heißt er noch gleich?«
»Ralph«, sagt Maike.
»Dabbeling.« Sebastian wirft Oskar einen warnenden Blick zu.
Wenn Maike nicht so sehr damit beschäftigt wäre, ihre Ohren vom Rotwerden abzuhalten, könnte sie sich fragen, woher Oskar überhaupt von einem Radsportfreund weiß. Bei den Freitagstreffen wurde Dabbeling mit Sicherheit niemals erwähnt.
Dafür bei einer anderen Gelegenheit, von der Maike keine Ahnung hat, weil sie Sebastian auf einer Konferenz in Dortmund glaubte. Stattdessen lag er unter einer Dachschräge auf einem alten Sofa, wie ein speisender Römer auf einen Ellenbogen gestützt, und gestikulierte mit der freien Hand. Dieser Dabbeling sei ein Kerl, erzählte er, dessen Ehrgeiz Stahlbeton zum Schmelzen bringe. Neben einer monströsen Arbeitswoche absolviere er ein Trainingsprogramm, das ihn, je nach Dienstplan, in den frühen Morgenstunden oder am späten Abend auf den Gipfel des Schauinslands treibe. Er rasiere sich Arme und Beine, um den Luftwiderstand zu verringern, und wenn man ihm die Hand gebe, habe man das Gefühl, einen Toten zu berühren. Völlig unverständlich, warum sich Maike im Radsportclub ausgerechnet einem so hässlichen Menschen angeschlossen habe und wie sie seinen Anblick an zwei Abenden in der Woche ertrage. – An dieser Stelle unterbrach ihn Oskars amüsierte Stimme: Zwei Abende in der Woche? In eng anliegenden Anzügen? Mit roten Köpfen und verschwitztem Haar? – Worauf Sebastian nichts zu erwidern wusste.
Nun steht er auf und umrundet den Tisch, um Wein nachzuschenken.
»Maike spricht nicht gern über Dabbelings Beteiligung am Medizinerskandal«, sagt er, und der scherzhafte Tonfall misslingt, als würde er auf einem verstimmten Instrument gespielt. Fast stößt er mit seiner Frau zusammen, als diese aufsteht, um, noch kauend, die Salatteller einzusammeln. Deutlich sichtbar arbeiten die Muskeln hinter ihren Schläfen.
»Das ist nicht witzig«, sagt sie. »Ralph ist Schlüters bevorzugter Anästhesist. Sie verstehen sich gut, im OP genau wie auf Messen. Jetzt glauben alle, dass Ralph etwas über dubiose Kontakte zu Pharmakonzernen weiß. Und dass, wenn er plaudert, das ganze Krankenhaus zusammenbricht.«
»Ich verstehe.« Oskars Augenbrauen heben sich zu mitleidigen Bögen. »Wurde der arme Kerl bedroht?«
»Das wurde er in der Tat«, sagt Maike. »Wenn du willst, kannst du geradezu sensibel sein.«
Sie trägt den Tellerstapel zur Tür und bittet die Stille im Raum, sich doch vor dem nächsten Gang eine Zigarette anzuzünden. Kaum ist sie verschwunden, läuft Liam ins Nebenzimmer, wo eine Keksschale auf dem Fernseher steht. Durch die halb offene Tür schaut Sebastian ihm nach, während Oskar mit zurückgelegtem Kopf Rauchskulpturen in die Luft bläst. Für eine Weile ist das Schweigen sanft und gut.
»Wegen vorhin«, sagt Oskar dann. »Das war ernst gemeint, cher ami . Die Kollegen lachen über
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