Schilf
herunterleckt.
Ruhige Phasen gehören ebenso zu den Freitagstreffen wie Provokationen, Diplomatie und knapp vermiedener Krieg. In den besinnlichen Minuten ist es meist Maike, die spricht. Sie erzählt gern vom Radfahren, von der erbarmungslosen Hitze an schattenlosen Steilaufstiegen und der kühlen Umarmung des Windes, wenn es abwärts geht. Vom schnellen Wechsel der Temperaturen in den Luftschichten und davon, was Freiheit bedeutet, nämlich so schnell zu sein, dass man sich selbst entkommt. Jedes Mal sagt sie, dass Geschwindigkeit jung hält, und das nicht nur, weil die Zeit nach Meinung der Physiker für bewegte Körper langsamer vergeht.
Während Maike spricht, sieht Sebastian sie unverwandt an. Nur wenn sie lacht, schaut er kurz zu Oskar hinüber, als gäbe es etwas zu teilen. Vom Inhalt ihrer Worte bekommt er wenig mit. Er denkt darüber nach, wie sehr er Maike liebt und wie froh er trotzdem ist, ab übermorgen für eine Weile allein zu sein. Bei dem Gedanken an die bevorstehenden drei Wochen, die er in aller Abgeschiedenheit am Schreibtisch verbringen will, bringt ihm die Vorfreude das Zwerchfell zum Kribbeln. Gleich am ersten Tag wird er den Volvo bis unters Dach mit Einkäufen beladen und danach das Haus nicht mehr verlassen. Er wird das Telefon ausstecken, den Fernseher zur Wand drehen, Oskars Klappbett im Arbeitszimmer aufgeschlagen lassen. Die anderen Räume wird er durch Verschließen der Türen von der Karte seiner Lebensgewohnheiten löschen. Es wird Ruhe herrschen. Eine mehrwöchige, allumfassende Ungestörtheit und damit der höchste Luxus, den sich Sebastian vorstellen kann. Beim Nachdenken über Zeit und Raum werden Bilder in seinem Kopf entstehen, den abstrakten Pinseleien von Maikes Malern nicht unähnlich, die, wie Sebastian oft gedacht hat, auf ihre naive Weise auch nichts anderes tun, als sich mithilfe von Formen und Farben dem wahren physikalischen Wesen der Dinge zu nähern. Drei Wochen lang wird sich Sebastian daran erfreuen, wie der Buchstabenwurm auf dem Monitor aus sich selbst heraus wächst, Seite um Seite füllend, bis endlich ein Satz, den er schon lange zu diesem Zweck bereithält, den krönenden Abschluss bilden kann: Und hiermit ist alles gesagt.
Sebastians Kopf rutscht tiefer, so dass die stützende Hand ihm die Wange hochschiebt. Oskar schaut ihn über den Tisch hinweg an und gibt ab und zu ein beipflichtendes Brummen von sich, um Maikes Rede in Gang zu halten. Dabei lächelt er über Sebastian, der endgültig den Faden verloren hat und sich heimlich mit einer physikalischen Überlegung zu beschäftigen beginnt. Früher hätte Oskar am Spiel der Augenbrauen und den stummen Bewegungen der Lippen erraten können, mit welchem Gegenstand sich sein Freund gerade befasst. Diese Zeiten sind vorbei. Heute sitzt er neben Sebastians Gedanken wie an einem Fluss, den er weder sehen noch hören kann, von dem er aber weiß, dass er stetig fließt. Trotzdem ist er noch immer in der Lage, die bloße Gegenwart dieses fremden geistigen Fließens zu genießen. Für Oskar bedeutet das eine Menge. Schon seit seiner Jugend fühlt er sich, als hätte er sich im Jahrhundert geirrt und wäre in einem falschen Leben unterwegs, während ihn anderswo und vor allem anderswann Leute wie Einstein und Bohr bei ihren Debatten vermissen. Damals, vor den großen europäischen Katastrophen, gab es nicht nur die notwendigen geistigen Kapazitäten, sondern auch den Willen, ein paar Dinge zu Ende zu denken. Sehnsüchtig stellt sich Oskar vor, was es bedeutet hätte, im Jahr 1880 geboren zu sein. Mit der heutigen Zeit, in der Dummheit, Hysterie und Heuchelei regieren und das Leben in ein Karussell verwandeln, das sich rumpelnd und musizierend dreht und alles Wichtige immerzu aus dem Zentrum ins Nebensächliche schleudert, versöhnt ihn nicht viel. Außer der Tatsache, dass auch Sebastian anwesend ist, und an dieser Stelle erwacht schon wieder die Ungeduld mit dem Freund. Sebastian ist ein Abtrünniger, ein Verräter an dem Versuch, hundert Jahre nach Einstein und Bohr ein weiteres Mal zu einer geistigen Revolution aufzubrechen. Jede neue Abkehr vom Pfad der theoretischen Physik ist eine Abkehr von den Möglichkeiten ihres Zusammenseins. Wenn es etwas gibt, das Oskar niemals aufgeben wird, dann ist es der Wunsch, Sebastian zurückzuholen.
Als er bemerkt, dass sich Maikes Redestrom erschöpft hat und Sebastian nichts weiter unternimmt, als mit dem Löffelstiel Linien aufs Tischtuch zu zeichnen, erzählt er dem
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