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Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Titel: Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Randt
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ist das Milchglas des Passagendachs von Normalglas unterbrochen. Einmal täglich wird so der Brunnen von der Sonne wie von einem Scheinwerfer angestrahlt. Ich sehe Wesley schon von weitem. Er sitzt auf der Kante des Wasserbeckens und beißt in ein Fischsandwich. Ich bin sofort etwas neidisch, thematisiere meinen Neid aber nicht. Gleich nach der Begrüßung bietet Wesley mir einen Bissen an, ich verneine erst und greife dann doch zu. Die Fischboulette hat sich mit einer dünnen Schicht Ketchup vollgesogen, es schmeckt eigentlich gut, aber ich gebe Wesley das Sandwich gleich wieder zurück. Ich setze mich neben ihn: »Wie geht’s?« Er hat sich sein dunkelblondes Haar hinter die Ohren gelegt. Es sieht aus, als sei er damit gerade durch Salzwasser getaucht und als hätte er es im Anschluss nicht gewaschen und geföhnt, sondern bloß trocken gerieben.
    »Ich habe mit meiner Mutter telefoniert. Es geht ihr nicht besonders. Es geht ihr sogar schlecht.«
    »Dann kommt sie bald zurück?«
    Wesley schüttelt den Kopf: »Nein, das sicher nicht. Im Gegenteil. Sie macht sich große Sorgen um uns … Sie führt weiterhin diese Trainings durch, und man mag davon halten, was man will, aber zuletzt hat sie mit alten Videoaufnahmen gearbeitet, auf denen auch wir beide zu sehen waren. Wir beide als Sechzehnjährige … und seitdem geht ihr eine bestimmte Szene nicht mehr aus dem Kopf.« Wesley scheint sich so sehr auf das Sprechen konzentrieren zu wollen, dass er das angebissene Fischsandwich einfach zwischen uns ablegt: »Meine Mutter hat immer wieder uns beide vor Augen, wie wir in der Dämmerung über den Strand laufen. Wir tragen weit geschnittene Nylonblousons, sodass wir fast wie damals mit sechzehn aussehen, wir gestikulieren und lachen … und dann brechen wir ein. Als wäre da bloß Sand auf eine marode Kuppel gehäuft. Diese Szene sieht meine Mutter jetzt in jedem Training. Sie glaubt, dass uns etwas abhandenkommt, dass da eine innere Gefahr herangewachsen ist, in den allermeisten von uns. Eine Gefahr, die wir noch in diesem Frühling spüren werden, die ganz CobyCounty spüren wird … Es sei denn, wir verlassen die Stadt.«
    Ich greife nach dem Fischsandwich, das zwischen uns liegt. »Du bedenkst aber schon, dass deine Mutter Neo-Spiritualistin ist?«
    »Meine Mutter hat die meiste Zeit ihres Lebens in CobyCounty verbracht, Wim, genauso wie wir. Sie kennt uns, und sie kennt die Stadt, und sie hat mich noch nie belogen.«
    Vor der Passage kneife ich die Augen zusammen, das Tageslicht kommt mir jetzt deutlich zu hell vor. Ein cremefarbenes Taxi ist vorgefahren, und Wesley winkt mir im Gehen noch einmal zu. Als der Wagen mit ihm davonrollt, fährt er die abgedunkelte Seitenscheibe herunter und ruft etwas, das ich akustisch schon nicht mehr verstehe. Ich bin unsicher, ob Wesley mein Stutzen noch wahrnimmt, sehe das Taxi abbiegen und blicke dann auf mein Handy: keine Nachricht von Carla. Es ist ein völlig windstiller Nachmittag, weit entfernt rauscht das Meer, und die Sonne hat durchaus schon Kraft.

4 ↵
    Ich schreibe Carla nicht, dass Wesley weggefahren ist. Ich möchte sie nicht beunruhigen. Dabei ist sie eigentlich keine Person, die sich beunruhigen lässt. Carla strahlt etwas aus, das ich an guten Tagen sehr mag, nämlich eine ausgeprägte Fähigkeit, Dinge zu relativieren. »Selten ist eine Band so überwältigend, wie sie von ihren Fans beschrieben wird.« Solche Sätze sagt Carla oft, sie werden aus ihrer großen Ruhe geboren, und meistens nehme ich diese Ruhe als eine Art Charakterstärke wahr. Nur an schlechten Tagen habe ich das Gefühl, dass mich diese Ruhe enorm träge macht, dass ich irgendwann neben Carla einschlafen und dann keinen Grund mehr sehen könnte, noch einmal aufzuwachen.
    Wesley und Carla sind im Laufe unserer Beziehung zwar nicht zu engen Freunden geworden, aber zumindest reden sie jetzt miteinander. Anfangs zeigte Carla kein Interesse an Wesleys aufgeladenen Halbsätzen, und Wesley sah in Carla wahrscheinlich eine Persönlichkeit, die sich für abgeschlossen hielt und also längst stagnierte. Beide sind bis heute smart genug geblieben, um mir gegenüber keine dieser Einschätzungen jemals auszusprechen. Im Gegenteil: Wenn sie sich in meiner Anwesenheit begegnen, dann kommt es sogar vor, dass sie sich umarmen und drücken. Aber in den letzten Wochen sind sie sich kaum noch begegnet. Insofern kann Wesley gar nicht beurteilen, ob ich das Wetter auf Carla beziehe oder ob ich nur allgemein besorgt

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