Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
bin. Seine Aussagen sind pauschal, aber trotzdem nicht falsch.
Im O’Brian-Hotelturm bitte ich das Mädchen an der Rezeption, meine Mutter aus ihrem Büro herauszuklingeln. Doch meine Mutter ist nicht im Haus. Das Mädchen an der Rezeption heißt Pia, sie blickt mich vertraut an.
»Soll ich ihr etwas ausrichten, Wim?«
»Nein, ich glaube, ich möchte in der Lobby auf sie warten.«
»Sie wird sicher bald kommen. Willst du etwas trinken?«
Ich kenne Pia bestimmt schon fünf Jahre lang. Sie ist absolut glücklich mit ihrem Job und die Hotelbesucher mögen sie, denn ihr Lächeln ist einnehmend und ihr Outfit immer gut zusammengestellt. Ich bitte um einen Eistee und habe das Gefühl, dass Pia mit steigendem Alter immer besser aussieht. Sie ist heute attraktiver als vor zwei Jahren und war vor zwei Jahren schon attraktiver als vor vier Jahren. Eventuell wird sich diese Entwicklung bis dreiunddreißig fortsetzen, ab dann wird aber sicher auch Pia bei jedem Foto auf günstige Lichtverhältnisse angewiesen sein, so wie eigentlich alle Mädchen. Ob für uns Jungs dasselbe gilt, kann ich nicht sagen. Ich gehe aber davon aus, dass unser Älterwerden vorteilhafter verläuft, zumal davon ja eigentlich alle ausgehen.
In der Lobby ist der schönste Platz von einem potenziellen Kururlauber besetzt. Ich glaube, dass es sich um einen Kururlauber handelt, weil er edelbraune Halbschuhe aus Glattleder trägt und sein Gesicht mit einer aufgeschlagenen New York Times verdeckt. Ich setze mich ihm gegenüber auf die harte Couch. Gegen Abend gibt es in der Lobby keine Sonne mehr, dann wird die andere Seite des Hotelturms bestrahlt, und von den Balkons der Suiten aus kann man den Tag im Meer verschwinden sehen. Die auf der Straße vorübergehenden Passanten haben Einblick in die Lobby. An Nachmittagen wie diesem spazieren sonst Einkäufer und Schüler und gepflegte Senioren durch den Schatten des Hotelturms, doch im Augenblick spaziert niemand, die Fußgängerzone ist menschenleer. Ich frage mich, ob die Leute vielleicht am Strand sind, ob sie dort bereits feiern, weil die Sonne schon so brennt. Und dann denke ich, dass wahrscheinlich gerade lauter Dinge passieren, von denen ich gar nichts weiß, und die genauso passieren würden, wenn ich nicht da wäre.
Ich möchte gar nicht erst darüber spekulieren, wo Wesley hingefahren sein könnte, ob nun nach Asien oder nach Südamerika oder sonst wohin. An manchen Tagen spekuliere ich einfach viel zu viel, vielleicht sogar an den meisten. Pia stellt ein hohes, von Kälte beschlagenes Glas voller Eistee neben mir ab, und ich lächle ihr dankbar zu. Sie lächelt ebenfalls und nimmt mich damit relativ stark für sich ein, dreht sich aber sofort wieder weg und geht zurück an die Rezeption. Als ich ihr nachblicke, kommt es mir vor, als hätte sie vor zwei Jahren tatsächlich noch dunkleres Haar gehabt und als wäre sie kleiner gewesen. Vielleicht liegt das an den Schuhen, die sie jetzt trägt. Oder das Mädchen an der Rezeption ist gar nicht mehr Pia, sondern ein neues Mädchen, das Pia nur ähnlich sieht. Dass ich das für einen Moment tatsächlich annehme, macht mir Sorgen: Vielleicht könnte ich schon bald selbst so durcheinander sein wie Wesley.
Einmal habe ich ihn ohne Absicht beleidigt, als ich sagte: »Oft kommst du mir vor, als würdest du ein viel bewegteres Leben führen als ich. Dabei gehen wir vier Tage in der Woche auf dieselbe Schule und am Wochenende zusammen auf dieselben Feste. Vielleicht machst du nur etwas mehr Lärm.« Wesley sprach darauf lange Zeit kein Wort mehr mit mir. Und auch nach seiner Phase des Schweigens hat er jede größere These über unsere Zukunft vermieden. Bis gestern eigentlich. Jetzt denke ich, dass diese lange Zurückhaltung vielleicht nicht gut war für ihn. Vielleicht hat sich auch seine Mutter zu lange zurückgehalten, vielleicht wegen Wesleys Dad, der immer so pragmatisch war, und vielleicht ist sie deshalb dann auf diese Zeremonien und Trainingsmethoden gestoßen. Der Neo-Spiritualismus ist ja eigentlich unbedeutend für CobyCounty, viele probieren ihn aus, so wie sie auch verschiedene Ernährungsweisen oder Sportarten ausprobieren. Wesleys Mutter hat das aber nicht so spielerisch sehen wollen, und dann stand sie mit ihrer ernsthaften Entscheidung für ein neo-spiritualistisches Lebensmodell ziemlich alleine da. Mit einem Mal schien für sie das Glückspotenzial unserer Stadt ausgeschöpft, und dann hat sie auch niemand mehr aufhalten wollen. Ich habe
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