Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
einen befreienden, wenn vielleicht auch etwas flachen Höhepunkt zubewegen. Doch als ich das denke, passiert es auch schon. Carla hebt und senkt ihre linke Augenbraue, sie kennt mich gut genug. Dann überrascht sie mich, indem sie sagt: »Geh mal weg.« Als ich zurückweiche, fängt sie an, selbstständig an sich herumzuspielen, auf eine ausgestellt emanzipierte, enorm breitbeinige Art. Ich sitze währenddessen nackt auf der Bettkante und schaue zum Fenster hinaus. Carla atmet summend vor sich hin. Kurz habe ich das Gefühl, zusammen mit Carla in einem utopischen Sexraum zu wohnen. Wahrscheinlich weil die Wolken vom Sturm aufgesprengt wurden, weil jetzt plötzlich ein warmer Lichtstreifen auf unser Bett fällt. Bald hat auch Carla eine Art Höhepunkt, und danach küssen wir uns, so wie man sich küsst, wenn man sich ernsthaft mag, also fast schon asexuell, und nach mehreren kurzen, relativ trockenen Berührungen unserer Münder bleiben wir noch nebeneinander im Sonnenschein sitzen. Ich sage: »Heute wohnen wir in einem utopischen Sexraum.« Carla lächelt und haucht, dass sie mich vermisst hat. Ich finde diese Aussage in ihrer völlig unmetaphorischen Art gerade total angemessen.
Weil es Nachmittag ist und wir nach dem Sex in eine Kuchenstimmung hineingeraten, rufen wir den BakeryExpressService an. Bei BakeryExpress arbeiten ausschließlich Kunststudenten. Sie wirken oft unsicher und scheinen ihren Job kaum zu mögen, aber das ist natürlich ungemein charmant. Der Service ist teuer und eigentlich haben wir ihn nicht nötig, denn nur drei Häuser weiter hat gerade eine der besten Konditoreien der Stadt eröffnet. Allerdings gibt es die BakeryExpress-Kuchensorten nur über den BakeryExpressService und Carla durfte den Service in ihrer Jugend nie nutzen, weil ihre Eltern gegen stilisierte Bringdienste waren. Erst während unserer Beziehung ist sie ein echter Fan geworden, insbesondere von den fruchtdurchsetzten Sauerteigsorten. Am Telefon erzählt sie ihren Eltern manchmal, dass wir gerade wieder diesen »irreguten Kuchen von dem Bringdienst« essen, und das finde ich oft etwas kindisch von ihr, denn ihre Eltern haben ja nicht mehr vor, ihre Meinung noch zu revidieren. Carlas Vater ist Musiker, die Mutter Onlineredakteurin, die beiden führen eine offene Beziehung, sie sind glücklich und haben Carla zu einem fantastischen Mädchen erzogen. Mich haben sie bisher erst zweimal getroffen, jeweils während unverbindlicher Abendessen, und Carla behauptet, dass sie mich sehr mögen.
Der Mitarbeiter, der den Kuchen bringt, wirkt schüchtern und überreicht Carla die Bestellung in einer Box aus recyclebarer Pappe. Wir geben ihm ein großzügiges Trinkgeld. Er schaut sich kaum um. Ich frage mich, was für eine Art von Kunststudent er eigentlich sein will, wenn er in eine unbekannte Wohnung blickend nicht versucht, möglichst viel wahrzunehmen. Als er sich verabschiedet, muss ich davon ausgehen, dass ihm nicht einmal das Piano im Flur aufgefallen ist. Carla ist vielleicht sogar noch musikalischer als ihr Vater, aber sie hat sich dagegen entschieden, aus ihrer Musikalität Profit zu schlagen. Sie nimmt ihre Lieder manchmal mit einem freistehenden Mikrofon auf und die Aufnahmen spielt sie dann nur ihren engsten Freunden vor. Zu meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag hat sie mir eine digital nachbearbeitete Compilation mit ihren bisher größten Hits geschenkt. Ich kannte gerade einmal die Hälfte dieser Hits und muss leider auch zugeben, dass ich ihre Compilation nur selten anhöre, da ich kein besonders großer Fan von Pianomusik bin. Bei Pianos fallen mir immer nur Filme ein, in denen es ums Altwerden oder den Verlust einer sehr tiefen Liebe geht. Doch als Carlas Pianomusik an meinem Geburtstagsmorgen aus den Stereoboxen in meiner Küche schallte, hatte ich ausschließlich positive Assoziationen: ›Meine Freundin ist begabt im Pianospielen.‹ Oder: ›Carla muss während der Aufnahme in dem weitläufigen Flur ihres Apartments gesessen haben, mit glatter Haut und zusammengestecktem Haar.‹ Carla steckt ihr Haar nämlich immer zusammen, sobald sie am Piano sitzt.
Nun steht sie vor mir im Eingangsbereich des Apartments und führt ihren Lieblingskuchen mit der Hand zum Mund. Als sie abbeißt, fallen mehrere Teigstücke auf den Parkettboden. Die Art und Weise, wie Carla ihren Kuchen überhastet genießt, kommt mir ehrlich und eigentlich schön vor. Trotzdem frage ich sie: »Verlierst du mit Absicht so viele Krumen?« Carla weiß,
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