Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
mit beiden Händen über den Kopf: »Ich glaube, du solltest bald wieder ins Büro gehen!« Sie lächelt mich an und ich merke, dass auch sie schon sehr betrunken ist. Zurück im Souterrainbistro, klauben wir einige Garnelen aus den Suppentöpfen. Wir verteilen volle Sektgläser im Raum und lassen die Tür offen stehen, aber es ist niemand auf der Straße, der eintreten könnte. Wesley hält sich mit dem Sekt zurück, wir anderen sind nicht zu bremsen.
Als CarlaZwei und ich uns in verschiedenen Badezimmern des Hotelturms parallel übergeben, ist es schon längst wieder hell.
Am Tag danach wissen wir eigentlich nicht, ob das Handynetz jemals ausgefallen war. Jedenfalls können wir nun, seit wir unsere Telefone wieder eingeschaltet haben, auch problemlos Kurznachrichten und Anrufe empfangen.
»Doch, doch« , sage ich zu meiner Mutter, »es geht uns allen gut. Sehr gut sogar. Und es ist auch kaum etwas zu Schaden gekommen.« Ich fahre mir mit einer Hand durchs Haar, weil meine Kopfschmerzen erstaunlich sind, und höre meine Mutter durchatmen. Sie erzählt, dass Peter Stanton für sie dort »im Exil« , wie die Vororte nun ironisch genannt werden, eine Ansprache gepostet habe: »Er will ein Feuerwerk organisieren, sobald die Stadt wieder vollzählig ist. Es soll das schönste Frühlingsfinale aller Zeiten werden!«
Ich frage, ob Peter Stanton auch wieder unser Bürgermeister sein wird, und nach einem kurzen Zögern sagt meine Mutter: »Früher oder später bestimmt!«
Tom O’Brian lässt Grüße ausrichten. Ich höre ihn sagen, dass ich schon einmal einen Pitcher mit Wodka Apfelsaft kalt stellen solle. Kurz denke ich, dass er nach diesem Zwischenruf nun eigentlich anbiedernd lachen müsste, aber dann fällt mir ein, dass das ja mein Dad ist, der immerzu anbiedernd lachen muss, und nicht Tom O’Brian. Als meine Mutter aufgelegt hat, frage ich mich, ob nun auch die Touristen zurückkehren werden, die ihre Ferien ja so abrupt abgebrochen haben, als es erstmals schwierig zu werden drohte. Rein kalendarisch warten schließlich noch sechs Wochen Frühling auf uns. Ich stelle mir überfüllte Expresszüge und ausgebuchte Flugzeuge vor, schrille Tage, an denen sich die Stadt stündlich mit talentierten Freiberuflern füllt und sich unser Frühling zu einem neuen Höhepunkt aufschwingt, jetzt erst recht. In einem Moment will ich Wesley auf seinem Handy anrufen, um ihn für die nächsten Wochen zu motivieren, um ihm und mir einzureden, dass diese Reisesaison vielleicht doch noch nicht vorbei ist. Ich lege mein Telefon aber gleich wieder aus der Hand.
Ich habe mir ein gestreiftes T-Shirt und einfarbige Shorts angezogen, und ich lehne mich beim Strandspaziergang an CarlaZwei. Es ist plötzlich heiß geworden. Wir haben unsere Arme um unsere Hüften gelegt und schwitzen beide. Brandung ist kaum zu hören, die See liegt ruhig und friedlich da, und für gewöhnlich würden um diese Tageszeit Touristen und Einheimische gemeinsam baden. Wetterbedingt wäre davon heute jedoch abzuraten. Es ist viel zu dunstig. Und auch wenn der Dunst scheinbar aus sich heraus leuchtet, weil schon bald die Sonne wieder hindurchbrechen wird, wären die Schwimmer darin nicht zu orten und es könnte zu den ersten Ertrinkungsopfern in der Geschichte CobyCountys kommen.
»Erinnerst du dich, wie es war, alleine zu Hause zu sein?« , fragt CarlaZwei.
»Ja, ich erinnere mich gut. Und es hat mich schon oft traurig gemacht, dass man dieses Gefühl eigentlich nicht mehr herstellen kann, seit man in einer eigenen Wohnung lebt.«
»Ich finde, durch den Sturm ist dieses Gefühl ein bisschen zurück.«
Dann nicken und schweigen wir. Niemand kommt uns entgegen, niemand folgt uns, es ist eigentlich nur feuchter Sand zu sehen. Einmal gehen wir an einer geschlossenen Softeisfiliale vorbei, und einmal holen wir beide gleichzeitig tief Luft. Dieses wortkarge Einverständnis zwischen CarlaZwei und mir erinnert mich an das textbasierte Einverständnis, das sich in den frühen E-Mails zwischen CarlaEins und mir hergestellt hat. Zumindest ist es die Annahme eines Einverständnisses, auch wenn es vielleicht nur eine Frage der Zeit ist, bis dieses brüchig wird. Doch wenn ich CarlaZwei’s sachlich-kühles Profil betrachte, dann habe ich gegenwärtig das Gefühl, dass wir uns eigentlich vor nichts zu fürchten brauchen. Wir spazieren über einen stabilen Strand, es ist ein dunstiger Nachmittag, und bald wird es Abend.
Über den Autor ↵
Leif Randt, 1983 in Frankfurt
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