Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
sie auf den Markt kamen, waren sie höchstens ein paar Dollar wert.«
»Und jetzt?«
»Angeblich sind sie mittlerweile ziemlich wertvoll. Man bezeichnet sie, glaube ich, als Sammlerstücke .«
»Und wie würden Sie sie bezeichnen?« Ein listiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie gespannt auf meine Antwort wartete.
Diesmal musste ich nicht lange überlegen. »Nippes«, sagte ich knapp.
»Ich finde sie toll«, protestierte sie. »Schauen Sie sich doch mal die Wimpern von dieser hier an. Oh, und die Ohrringe von dieser. Und die winzige Perlenkette. Oh, und sehen Sie mal die hier. Hat sie nicht einfach einen wunderbaren Gesichtsausdruck?« Behutsam nahm sie einen der Köpfe in die Hand. Die Porzellanfigur war etwa fünfzehn Zentimeter groß mit aufgemalten gewölbten Augenbrauen, geschürzten roten Lippen, hellbraunen Locken, die unter einem pinkweißen Turban hervorquollen, und einer rosafarbenen Rose am Hals. »Sie ist nicht so kunstvoll gestaltet wie einige der anderen, aber sie hat einen so überlegenen Ausdruck, wie eine hochnäsige Matrone der besseren Gesellschaft, die auf alle herabblickt.«
»Sie sieht aus wie meine Mutter«, sagte ich.
Um ein Haar wäre ihr der Porzellankopf aus den Händen geglitten. »O mein Gott, das tut mir Leid.« Rasch stellte sie die Vase wieder auf ihren Platz zwischen zwei rehäugige Mädchen mit Haarbändern. »Ich wollte nicht …«
Ich lachte. »Interessant, dass Sie die ausgewählt haben. Es war ihr Lieblingsstück. Wie nehmen Sie Ihren Kaffee?«
»Mit Milch und drei Stücken Zucker?«, erwiderte sie, als ob sie sich nicht ganz sicher wäre, während ihre Augen weiter an den Porzellanköpfen hingen.
Ich goss uns beiden einen Becher Kaffee ein, den ich aufgesetzt hatte, als sie aus dem Krankenhaus angerufen und erklärt hatte, dass sie meine Anzeige am Schwarzen Brett neben einem der Schwesternzimmer entdeckt hätte und am liebsten sofort vorbeikommen würde.
»Sammelt Ihre Mutter immer noch?«
»Sie ist vor fünf Jahren gestorben.«
»Das tut mir sehr Leid.«
»Mir auch. Ich vermisse sie. Deshalb habe ich es bisher auch nicht übers Herz gebracht, eine ihrer Freundinnen zu verkaufen. Wie wär’s mit einem Stück Kürbis-Preiselbeer-Kuchen?«, wechselte ich das Thema, um nicht trübsinnig zu werden. »Ich habe ihn erst heute Morgen gebacken.«
»Sie können backen? Jetzt bin ich echt beeindruckt. In der Küche bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
»Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, wie man kocht?«
»Unser Verhältnis war nicht gerade das beste.« Alison lächelte, doch es wirkte im Gegensatz zu ihrem sonstigen Lächeln eher gezwungen. »Egal, ich nehme sehr gern ein Stück Kuchen. Preiselbeeren zählen zu meinen absoluten Lieblingssachen auf dieser Welt.«
Ich musste wieder lachen. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen Menschen getroffen habe, der so leidenschaftliche Gefühle für Preiselbeeren hegt. Könnten Sie mir
ein Messer anreichen?« Ich wies auf den Messerblock, der am anderen Ende der weiß gekachelten Arbeitsplatte stand. Alison zog das erste Messer heraus, eine dreißig Zentimeter lange Monstrosität mit einer fünf Zentimeter breiten, spitz zulaufenden Schneide. »Wow«, sagte ich. »Das ist ein bisschen zu mörderisch, finden Sie nicht auch?«
Sie wendete das Messer langsam in der Hand und betrachtete ihr Spiegelbild in der scharfen Klinge, während sie behutsam und für einen Moment gedankenverloren mit einem Finger über die Schneide strich. Dann bemerkte sie meinen Blick, steckte das Messer eilig zurück, zog eines der kleineren heraus und beobachtete aufmerksam, wie es mühelos durch den großen Kuchen schnitt. Jetzt war es an mir zu staunen, wie sie ihr Stück Kuchen herunterschlang, während sie mir Komplimente über Konsistenz, Leichtigkeit und Geschmack desselben machte. Sie aß hastig und konzentrierte sich wie ein Kind vollständig auf ihren Teller.
Vielleicht hätte ich argwöhnischer sein sollen oder doch zumindest vorsichtiger, vor allem nach der Erfahrung mit meiner letzten Mieterin. Doch wahrscheinlich waren es genau jene Erfahrungen, die mich so empfänglich für Alisons mädchenhaften Charme machten. Ich wollte wirklich glauben, dass sie genau so war, wie sie sich präsentierte: eine ein wenig naive, liebenswerte, süße junge Frau.
Süß , denke ich heute.
Süß würde mir nicht unbedingt als Erstes einfallen.
Wie kann etwas so Süßes zerstörerisch sein , hatte sie gefragt.
Warum habe ich
Weitere Kostenlose Bücher