Sag niemals nie
PROLOG
Das Kleid war aus schwerem, cremefarbenem Satin.
Ursprünglich war es das Cocktailkleid ihrer Großmutter gewesen. Annas Mutter hatte es geändert, damit es der zierlichen Zehnjährigen passte. Über den ausgestellten Ballerinenrock hatte sie ein Bändchen aus Seide genäht. Als Schleier diente ein Stück Spitzengardine. Diese war mit Kristallperlen verziert und wurde von einem wunderbar echt aussehenden Diadem gehalten.
„Es ist traumhaft!“ Mit leuchtenden Augen betrachtete Anna sich im Spiegel. „Ich sehe wirklich wie eine echte Braut aus. Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe. Danke, Mama.“
Liebevoll lächelte Lisette. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, chérie. Du siehst zauberhaft aus. Wie eine Märchenprinzessin.“
Anna runzelte die Stirn. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Märchenprinzessinnen hatten blaue Augen wie ihre Mutter. Sie hatten keine olivfarbene Haut und dunkles Haar wie sie selbst, sondern waren hellhäutig und blond. Doch das Kleid war natürlich ein Traum!
Sie konnte sich glücklich schätzen, dass ihr Geburtstag immer in die Sommerferien fiel. Diese verbrachte sie stets mit ihrer Mutter bei der Großmutter auf Château Belle-Eden.
In diesem Sommer spielte Anna am liebsten Hochzeit. Im Schlossgarten pflückte sie Arme voll Blumen, schmückte die Treppengeländer mit Jasmin- und Efeugirlanden und band schwere altmodische Rosen zu Sträußen.
An den stillen, heißen Nachmittagen war es in der Eingangshalle kühl. Das gedämpfte Licht, das durch die mächtige Buntglaskuppel hereinfiel, warf schimmernde Schatten auf den hellen Steinfußboden. Ihre Mutter spielte im Salon Klavier. Anna schritt unterdessen die breite Treppe hinab. Sie lächelte glücklich. Denn ganz unten, am Fuß der Treppe, wartete er auf sie. Der Mann ihres Lebens. Ihr Fantasiebräutigam.
Wie den Prinzen in ihrem Märchenbuch stellte sie ihn sich vor – groß, blond, blauäugig, im hellgrauen Gehrock unglaublich elegant. Tausendmal hatte sie sich ausgemalt, wie er sie ansehen würde.
Die Liebe in seinem Blick machte sie atemlos.
1. KAPITEL
„C’est tout, Mademoiselle?“
Anna warf einen letzten Blick auf die Zeugnisse ihrer Kindheit, die wahllos in den Lieferwagen des Antiquitätenhändlers gestapelt waren. Sie atmete tief ein.
„Ja, das ist alles.“
Der Mann schlug die Ladeklappe zu und staubte sich die kräftigen Hände ab. „ Bien, Mademoiselle. Nur noch die Kisten auf dem Speicher sind übrig. Nichts, was sich an ein Pariser Antiquitätengeschäft verkaufen ließe, fürchte ich. Vielleicht versuchen Sie es mal bei einer Firma vor Ort?“
Geistesabwesend nickte Anna und kickte mit der Spitze eines ihrer grünen Ballerinas in den staubigen Kies. Unvermittelt hielt sie inne. Sie hatte schon viel Zeit mit den Kämpfern von GreenPlanet verbracht. Währenddessen hatte sie ständig billige Baumwollschuhe getragen. Fast hatte sie vergessen, dass man sich normal gekleidet anders benahm.
Sie richtete sich auf und lächelte dem Auktionator entschuldigend zu.
Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. Da er nun schon seit Jahren für das führende Pariser Auktionshaus arbeitete, konnte ihn eigentlich nichts mehr überraschen. Adlige waren sonderbare Leute, und die Engländer unter ihnen waren oft besonders schräg. Aber jemand wie Lady Roseanna Delafield war ihm noch nicht untergekommen.
Ihr schwarzes, seidiges Haar war von hellroten Strähnen durchzogen. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig und elegant wie die einer Ballerina. Sie kam ihm wie ein davongelaufenes, verwildertes Rassekätzchen vor. Heute trug sie ihr Haar als eleganten Nackenknoten. Ihr schlichtes schwarzes Leinenkleid ließ ihre Haut wie sonnengereifte Aprikosen schimmern. Auf den ersten Blick sah sie einfach nur aus wie eine dieser Töchter aus gutem Haus. Aber nichts konnte über den verletzlichen Ausdruck in ihren großen dunklen Augen hinwegtäuschen.
„ Bonne chance, ma petite – viel Glück, junge Dame“, verabschiedete er sich freundlich und kletterte auf den Fahrersitz des Lieferwagens. „Es ist traurig, einen Ort verlassen zu müssen, an dem man glücklich war, stimmt’s?“
Anna zuckte mit den Schultern. „Ja. Aber wer weiß, vielleicht ist es ja kein Abschied für immer.“
Der Mann beugte sich aus dem Wagenfenster und lachte. „Es soll ja noch Wunder geben. Ich wünsche Ihnen eins.“ Er schaltete den Motor ein und zwinkerte ihr zu. „Sie hätten es verdient. Au revoir.“
Anna
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