Schlag weiter, Herz
Zimmer, ein Bett, eine Küchenzeile. Es war günstig, und solange er keinen Plan für die nächsten vierzig Jahre hatte, war es ausreichend. Manchmal, wenn er auf seinem Bett lag, hoffte er, doch wieder mit Nadja zusammenzukommen. Aber er fand keinen Anlass, mit ihr zu sprechen, und so verkroch er sich in seiner Sturheit. Er dachte an Nadja, ohne dass sie davon erfuhr. Ein paar Monate arbeitete er als Trainer und Sparringspartner im Gladiator Gym und tastete seine Geldreserven nur wenig an.
Nachdem Mert eine Weile keine Anstalten machte, sein Leben in irgendeine Richtung zu lenken, verschaffte Ali ihm einen Vorstellungstermin bei Universum Box-Promotion, dem Boxstall, der die Klitschkos groß gemacht hatte, bevor diese ihre eigene Vermarktungsfirma gründeten.
Nach dem Abgang der Klitschkos war der Usbeke Ruslan Chagaev die Nummer eins bei Universum. Ein Boxer der Ostschule, wie Felix, aber mit Merts Statur. Chagaev bereitete sich auf einen Comeback-Kampf nach einer Niederlage gegen Wladimir Klitschko vor. Er stand voll im Wettkampftraining, als Mert und Ali sich im Gym vorstellten.
Michael Timm war Cheftrainer bei Universum und ehemaliger DDR-Amateurboxer. Natürlich kannte er die Boraus aus alten Zeiten und ließ Grüße ausrichten. Timm war freundlich, aber distanziert. Er machte keinen Hehl daraus, dass Mert zu alt und die Zeiten für Schwergewichtler schlecht waren, solange die Klitschkos ihre Show abzogen. Mehr als Kanonenfutter für einen, der sich auf Größeres vorbereitete, könne Mert nicht abgeben.
Immerhin wollte Timm sich ansehen, was Mert noch draufhatte. Also wärmte Mert sich auf, arbeitete mit Ali ein bisschen an den Pratzen und stieg dann zu Chagaev in den Ring. Sie trugen beide einen extradicken Kopfschutz, der das Gesicht quetschte, den Tiefschutz hatten sie über die Hosen gezogen.
Mert rechnete sich nicht viel gegen Chagaev aus, der jünger und besser ausgebildet war, schon WM-Kämpfe hinter sich gebracht und bei Olympia geboxt hatte. Mert wollte sich nur gut verkaufen, vielleicht noch ein paar Vorkämpfe bei Universum-Kampfabenden bestreiten. Schon in den ersten Sekunden merkte er, dass Chagaev genau das entscheidende bisschen schneller und genauer war, das es braucht, um zu treffen und selbst nicht getroffen zu werden. Jedes Mal, wenn Mert die Distanz verkürzte, um an Chagaev ranzukommen, donnerte ihm eine lockere Schlagserie entgegen.
Mert wusste, dass er unter Beobachtung stand, also holte er alles aus sich raus. Aber Chagaev war einfach nicht zu erwischen. Ali rief Mert keine Anweisungen zu, es war ja kein Kampf, sie sollten sich nur abtasten, Reflexe zeigen, Bewegungsabläufe. Das Einzige, was Mert hörte, war Timm, der nach etwa einer Minute sagte: »Ruslan, gib mal Gas.«
Dann wurde Mert von mehreren Schlagserien getroffen, eine härter als die vorangegangene. Chagaev prüfte ab, ob Mert dagegenhielt, wenn er unter Druck geriet, und Mert versuchte es, nur um in eine noch härtere Serie zu laufen. Als die Runde endlich vorbei war, klang in Merts Kopf ein schrilles Pfeifen. Chagaev hielt ihm zur Verabschiedung den Handschuh zum Abklopfen hin, den Mert vor lauter Erschöpfung beinahe verfehlt hätte. »Viel Glück«, sagte Timm.
Ali lud Mert zu sich nach Hause ein. Seine Mutter briet Köfte, stellte Schüsseln mit Vorspeisen auf den Tisch und reichte Mert einen Eisbeutel, den dieser auf die roten und blauen Stellen in seinem Gesicht drückte.
»Warum hauen wir nicht ein paar Monate nach Thailand ab, solange wir noch boxen können?«, fragte Ali, der immer noch darum bemüht war, Mert aufzubauen. »Zumindest über den Winter. Da ist es warm, und alles ist billig. Da sind wir die Könige.«
Alis Mutter trug Teller auf und schenkte Tee nach.
»Was sollen wir denn da? Wir sprechen doch nicht mal die Sprache.«
»Eine gute Zeit haben. Bald ist das vorbei, dann heiraten wir, werden Väter und erkennen uns nicht mehr auf der Straße. Lass uns doch noch mal was erleben.«
»Ich weiß nicht.«
»Was weißt du nicht?«
»Was ich da soll.«
»Was sollst du denn hier?«
Ali fing während des Essens immer wieder davon an, bis seine Mutter ihn ermahnte, sich endlich einen ordentlichen Beruf zu suchen und seine Eltern nicht weiter unglücklich zu machen. Er ließ es auf sich beruhen.
Mert fuhr mit der Bahn nach Hause, nahm den Lift in den neunten Stock, in sein Exil über Hammerbrook, und wollte die Schmerzen vom Sparring mit Chagaev rausschlafen. Gerade als er die Tür hinter sich
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