Schlag weiter, Herz
Zwanzigjährigen und dem Kopf eines alten Mannes. Dagegen hat Gordon keine Mittel. Er hat zu wenig erlebt, um einschätzen zu können, was passiert. Würde er es bis in die Rundenpause schaffen, könnte sein Trainer ihm helfen, aber das lässt Mert nicht zu. Er schlägt einzelne, harte Schläge, mit der Linken, mit der Rechten. Gordon dreht sich ab, wird verwarnt, verschanzt sich hinter seinen Fäusten. Er vergisst mitzuschlagen, und nachdem er fünfzehn Treffer ohne Gegenwehr genommen hat, bricht der Ringrichter den Kampf ab.
Gordon beschwert sich. Er will weiterkämpfen, kann aber kaum noch stehen. Die Entscheidung ist gefallen. Jubel und Pfiffe aus dem Publikum, die Ersten verlassen eilig das Stadion. Mert reckt seinen linken Arm in die Höhe, zwinkert Nok zu. Er wird nicht mit einer Niederlage abtreten. Mert tröstet Gordon mit zwei brüderlichen Klapsen auf die Schulter, bedankt sich in der gegnerischen Ecke. Dann geht er, begleitet von Nok, in seine Kabine. Mister Sambot steckt ihm auf dem Weg tausend Baht in den Bund seiner Kampfhose, deutet mit dem Zeigefinger dreimal auf Merts Nase und sagt verschmitzt: »Lumpini Stadium!«
Mert setzt sich auf die Pritsche, wickelt seine Bandagen ab und fragt sich, wie viele Schläge er wohl noch gehabt hätte. Jeder fühlte sich wie der letzte an. Er ist müde. So müde wie ein Stein, über den schon die Dinosaurier gelaufen sind. Aber er muss sich nicht vorwerfen, nicht alles gegeben zu haben. 156 Kämpfe als Amateur, 109 davon gewonnen. Dreizehn Kämpfe als Profi, nur eine Niederlage. Zehn Muay-Thai-Fights, sieben Siege. Keine überragende Bilanz, es reicht nicht für die Geschichtsbücher. Aber es ist mehr, als Mert von sich erwartet hat, als er eines Nachmittags vor tausend Jahren in die Halle des BC Einigkeit trat und vor Kalle Trabert stand. Mert hat kein Haus gebaut, keinen Baum gepflanzt. Doch er war da, er hat alles gegeben. Nun wird es endgültig Zeit zu entscheiden, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen will.
44
Am Sonntagnachmittag kehrte Mert aus Berlin zurück. Nadja war gerade aufgestanden und hatte eine Erleichterung im Blick, die er nicht ertragen konnte. Felix kam mit seiner Frau und den Kindern zu Besuch, sie hatten Kuchen mitgebracht. »Trostkuchen«, wie Angelika sagte. Jörg und Anna spielten im Wohnzimmer mit den alten Big-Jim-Figuren. Jörg riss einer Figur den Kopf ab. Der Kampf wurde besprochen, und Felix tat alles, um Mert das Gefühl zu geben, er habe gute Arbeit geleistet.
»Du hast härtere Treffer gelandet, keine Frage«, sagte Felix. Angelika schenkte Kaffee ein.
»Du warst toll«, sagte Nadja.
»Der hat sich davongestohlen«, sagte Felix. »Immer nur raus aus dem Mann gehen, das ist bei den Amateuren in Ordnung, aber bei den Profis geht das eigentlich nicht.«
Ali stieß zu ihnen. Der Kampf wurde noch mal Runde für Runde besprochen, Ali arbeitete bereits an einer Taktik für einen Rückkampf. Doch Mert konnte nur auf den Kuchen starren, der vor ihm auf dem Tisch stand. Das Ganze wirkte wie eine Aufforderung, endlich einzuscheren in die normale Welt, mit geregelten Arbeitszeiten, Lohnsteuerjahresausgleich, Kaffeekränzchen mit den Verwandten am Sonntagnachmittag. Nach zwei Stunden ging Ali, auch Felix, Angelika und die Kinder verabschiedeten sich.
Mert und Nadja blieben allein zurück. So allein, wie man nur sein kann, wenn man sich noch liebt, aber nicht mehr kennt. Nadja setzte sich vor den Fernseher, um die Nachrichten zu sehen.
Mert spürte ihre Entspannung. Alles an ihr sagte: Nun haben wir es hinter uns. Mert wurde wütend. Er wollte nicht aufgeben. Und am Ende eines unbarmherzigen Streits versuchten beide, schwer verletzt noch letzte Wirkungstreffer zu landen.
»Wie konnte ich nur auf den Irrsinn kommen, mit einem Proleten wie dir ein Kind in die Welt zu setzen?«, schrie Nadja, die Augen rot geheult, mit zitternden Lippen.
»Wer weiß, ob es von mir gewesen wäre?«, erwiderte Mert mit einem Blick, den er normalerweise für seine Gegner nutzte.
Mert zog für ein paar Wochen in ein Zimmer des Gladiator Gym, das spartanisch für Gast-Boxer eingerichtet war. Er fing wieder an zu trainieren. Bald wurde jedoch klar, dass es keine guten Kämpfe mehr für ihn gab. Zu alt, keine Perspektive, keine Aussicht, noch mal um einen Titel zu kämpfen, der vermarktbar wäre. Kleinere Kämpfe wurden ihm angeboten, für ein paar Tausend Euro, aber das verbot ihm die Ehre.
Er nahm sich ein Apartment in Hammerbrook, neunte Etage, ein
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