Schlagmann
fort war, und ging zu Arne hinein.
Der Schock bei seinem Anblick blieb diesmal aus – ich hatte mich daran gewöhnt, das war nun eben der neue Arne. Ich hatte ein Fachbuch dabei, das sich mit Magersucht befasste, und fragte ihn, ob ich es ihm leihen sollte.
Er schaute sich kurz den Umschlag an, schüttelte den Kopf und sagte mühsam:
»Das habe ich schon gelesen. Und noch viele andere. Ich weiß Bescheid.«
Die Tür ging auf, Sam kam herein, und die Stimmung änderte sich. Sam mit seinen roten Haaren und den Sommersprossen, notorisch unzufrieden, aber zu seiner Zeit einer der stärksten Ruderer der Welt. Ich sprang auf und hätte ihn am liebsten in die Arme geschlossen. Sam, die alte Rübe. Er sah gut aus. Nach dem Ende seiner Karriere hatte er das Architekturbüro seines Vaters übernommen. Arne sah zu, wie wir uns begrüßten und starrte dann auf die Obsttüte in Sams Hand.
»Das kannst du gleich wieder mitnehmen«, flüsterte er.
Sam legte die Tüte trotzdem auf den Nachttisch und setzte sich auf den Besucherstuhl. Er wirkte erschrocken, aber er schien Arnes wahren Zustand nicht zu erkennen. Beherzt packte er seine Hand und fing leise an zu reden.
»Ausgerechnet ein Schwächeanfall bringt mich nach Jahren wieder mit unserem stärksten Mann zusammen.«
Arne brummte.
Sam wusste noch nicht, dass es sinnlos war, an Arnes Lebenswillen zu appellieren. Er fing an, auf ihn einzureden.
»Arne«, sagte er. »Stell dir vor, das Rennen geht über 2000 Meter.«
Arne nickte schwach.
»Du bist erst bei 1500 Meter und drohst abzukacken. Was machst du?«
Das, was ich in Arnes Gesicht sah, war vielleicht sogar Wehmut. Er räusperte sich.
»Ich lege eine Schippe drauf«, sagte er heiser.
»Siehst du. So geht das. Und ich helfe dir dabei«, sagte Sam.
»Ja«, flüsterte Arne. »Ich bin schon weit gekommen in meinem Rennen.«
Sam dachte offenbar immer noch, er hätte in diesem Kampf eine Chance.
»Dann zieh endlich. Wenn du jetzt nicht den Riemen in die Hand nimmst und anfängst zu ziehen, verlierst du.«
Arne zog verschüchtert den Kopf ein und sagte leise:
»Ja. Ich verliere.«
Tief in mir fühlte ich immer noch Spuren seiner alten Kraft, mit der er uns alle mitgerissen hatte. Sam auch.
»Du verlierst nicht nur«, sagte ich laut vom Waschbecken aus in seine Richtung. »Du stirbst.«
Arne lag ungerührt in seinem Bett.
»Ja«, sagte er, noch leiser, kaum mehr hörbar. »Ich weiß.«
Sam fing an zu weinen. Arne fragte, ob ich eine Zigarette für ihn hätte. Ich verneinte. Bevor ich zusammen mit Sam hinausging, bat Arne mich um Papier und mehrere Briefumschläge.
Sam wischte sich die Augen und sagte mit verkrampfter Stimme: »Stirbt er?«
Ich nickte.
Das Papier brachte ich ihm am folgenden Tag. An der Tür passte mich die Stationsschwester ab, Marion, eine etwas derangierte, parfümierte Blondine. Sie erzählte mir mit Stolz in der Stimme, dass er am Morgen etwas gegessen habe. Ein weichgekochtes Ei und einen halben Toast. Außerdem habe er ihr erlaubt,einen Löffel Honig in seinen Tee zu rühren. Und er habe sich einverstanden erklärt, dass sie ihm zum Mittagessen eine Hühnersuppe mit Nudeln bringen dürfe.
»Kopf hoch«, sagte sie und legte mir die Hand auf den Arm. »Er scheint Sie sehr zu schätzen. Er sagt, es gibt für ihn nur einen einzigen Grund, diese Sachen zu essen. Er muss befolgen, was Sie ihm sagen, weil Sie wissen, wie man die Dinge richtig anpackt.«
Ich war ratlos. Wollte er sich über mich lustig machen?
Als ich ins Zimmer kam, sah ich, dass sie ihm den Tropf abgenommen hatten. Auf seinem Nachttisch stand eine Sprudelflasche und ein Glas, daneben ein gerahmtes Bild vom Gold-Achter.
Er wirkte erschöpft, doch als er mich sah, versuchte er, sich mit den Ellenbogen aufzurichten.
Ich stellte mit einem Handgriff seine Rückenlehne hoch, richtete das am Nachttisch festgemachte Tablett so für ihn ein, dass er bequem schreiben konnte, und gab ihm das Papier und einen Kugelschreiber.
Ich sagte: »Du wirst etwas essen?«
Er nickte und schaute mich an wie ein Kind.
»Wirst du endlich mit deiner Familie sprechen?«
Wieder nickte er.
»Ja. Ein paar anderen werde ich schreiben.«
»Auch Anja?«
»Sie kommt morgen.«
Er sagte das ganz beiläufig und schien meine Verwunderung nicht zu registrieren.
»Anja? Woher weiß sie, wo du bist?«
»Sie hat sich bei Frau Ringel erkundigt.«
Ich dachte, vielleicht hat Arne wegen Anjas Besuch gegessen. Am wahrscheinlichsten war aber, dass er so
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