Schlagmann
schnell wie möglichwieder raus wollte aus dem Krankenzimmer. Vielleicht, um zu rauchen.
Er ging schon am nächsten Tag. Auf eigene Verantwortung, ohne sich von mir zu verabschieden. Schwester Marion rief mich erst an, als er bereits mit dem Taxi weggefahren war. Sie sagte, sie werde mir mit der Hauspost einen Brief schicken, den Arne für mich zurückgelassen habe.
Weil ich Angst hatte, der Brief könnte verlorengehen, fuhr ich in der nächsten Pause mit dem Aufzug zu der Station. An der Tür zu Arnes verlassenem Zimmer blieb ich stehen. Direkt vor dem Fenster stand Anja.
ANJA,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Montag, 5. Januar 2009
Ich schaute auf das leere Krankenhausbett. Das Kopfteil war hochgestellt und das Kissen heruntergerutscht, die weiß bezogene Decke machte einen muffigen Eindruck, war aber säuberlich zurückgeschlagen. Das Laken darunter wirkte straff und glatt, und das war es, was mich plötzlich schaudern ließ. Er wiegt nichts mehr, dachte ich. Er hinterlässt nicht einmal mehr einen Abdruck auf einem Laken.
Auf dem Nachttisch stand eine halbvolle Sprudelflasche, daneben ein leeres Glas mit einem Kalkrand. Im unteren Fach lag das zerlesene Exemplar einer Sportzeitschrift. Die Luft war staubig von der Heizung.
Es war still, so still, dass ich mir wünschte, die Zeit ein paar Minuten anhalten zu können, um zu mir zu kommen. Durch das Fenster schien die Februarsonne und gab dem Zimmer eine kraftlose Helligkeit. Plötzlich sehnte ich mich nach einem Zeichen von Frühling, einen einzigen Vogelruf.
Eine Schwester fuhr draußen mit einem scheppernden Wagen vorbei, ein unangenehmer Geruch nach Fleischsuppe zog herein.
Ein unerwarteter Schmerz drückte auf mein Herz. Ich hatte geglaubt, ich wäre inzwischen auf Distanz gegangen zu Arne und fühlte mich wie eine Verräterin, als ich jetzt vor diesem leeren Bett stand. Inzwischen hatte ich seine Existenz verdrängt und meine ganze Energie eingesetzt, um selbst voranzukommen. Ich warf mir vor, Arne als Staffage benutzt zu haben, als Laune einer verwöhnten höheren Tochter. Nun war er fort und gleichzeitig wieder real.
Ich hatte es geschafft, ihn zu verdrängen, mich auf das Studium zu konzentrieren, und brachte es plötzlich beinahe mühelos zu Ende. Anschließend trat ich in die Personalabteilung von Vaters Bank ein. Zur Einstellung kaufte er mir einen weißen Porsche.
Ich stellte mir Arne in meinem Büro vor. Undenkbar. Oder auf der Pferderennbahn. Dort ging ich jetzt hin – und auch auf die förmlichen Bälle, die als Umschlagplätze für adeligen Nachwuchs dienen, und lernte ziemlich rasch den zu meinem neuen Lebenskonzept passenden Mann kennen. Einen Freiherrn mit Siegelring, Landbesitz und einem ordentlichen Aktiendepot. Einen Anti-Arne. Hubertus sah auf gediegene Weise gut aus, war ein guter Unterhalter und enttäuschte mich auch sonst nicht. Ich wusste, er würde mir niemals solche Angst einjagen wie Arne. Er würde mir niemals solche Schuldgefühle verursachen. Er würde mir keine solch schmerzlichen Rätsel aufgeben und mich nie in düstere emotionale Löcher hinabreißen, wie Arne es immer noch tat. Aber Hubertus würde mich auch nie so sehr herausfordern und nie so sehr mein Verlangen wecken, ihn für mich zu gewinnen. Ich würde mich nie nach einem Blick in sein Inneres sehnen.
Ich wollte gerade hinausgehen, um eine Schwester zu suchen, die ich nach Arne würde fragen können, als ich Schritte näher kommen hörte. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Eindringling und war gerade dabei, mir eine Entschuldigung für mein Hiersein zurechtzulegen, als ich sah, wer sich da näherte. Ali tauchte im Türrahmen auf. Ein merkwürdig veränderter Ali. Doktor Ali. Er war schmaler in den Schultern, seine Haltung ein bisschen weniger straff. Sein weißer Kittel verlieh ihm eine Autorität, die ich nicht von ihm kannte. Er wirkte abwesend und ein bisschen gehetzt, und als er mich sah, erstarrten seine Gesichtszüge. Er griff mit der rechten Hand an seine Kitteltasche, an dermit einem Clip sein Piepser befestigt war, offenbar ohne Anlass, denn er zog sie gleich wieder zurück. Er räusperte sich leicht und sagte schließlich: »Er ist fort.«
Da standen wir – zwei Menschen, die das gleiche Gefühl des Scheiterns mit sich herumtrugen – wegen Arne, der sich all die Jahre nicht um uns geschert hatte, weil er seine Befehle von woanders bekam. »Aber …« Ich suchte nach den angemessenen Worten. »Aber er ist doch noch am
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