Schlagmann
beschrieben, was wir selbst in ihm sahen. Arne existierte nicht.
Mir war das plötzlich zu viel. Ich sehnte mich zurück nach den Ergebnislisten und Fußballtabellen, die mich vorher so zuverlässig durch mein Leben begleitet hatten. Sie hatten keine Seele, die mich verwirren konnte.
Zurück in meiner Wohnung stellte ich mich vor den großen Spiegel im Flur. Ich sah einen 65 Jahre alten, ungekämmten Haudegen mit eingezogenem Bauch, in Jeans und einem zerbeulten Cordsamtjackett. Ein bisschen ramponiert. Aber wenigstens ich.
ALI,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Dienstag, 9. Dezember 2008
Als wir damals im Stützpunkt zusammen auf der Treppe saßen, glaubte ich, er würde auf mich hören. Ich war ein hartnäckiger Bursche und nicht gewohnt aufzugeben. Hier, wo wir früher einmal gemeinsam wie Sklaven auf das gleiche Ziel hingearbeitet hatten, fühlte ich mich ihm nahe. Ich drückte ihm den Ellbogen in die knochige Seite.
»Du musst dich jetzt zusammenreißen. Denk an Olympia! An unsere Goldmedaille. Alles ist möglich. Also gib endlich wieder Gas. Ich helfe dir dabei.«
Ich packte seinen Unterarm.
Arne zuckte zurück – und dann fuhr er alle seine Antennen wieder ein.
»Nicht nötig.«
Ich versuchte es mit Fürsorglichkeit.
»Soll ich nicht wenigstens deine Wunden versorgen?«
»Ich komme ganz gut zurecht.«
Gerade weil es so aussichtslos war, wurde ich lauter.
»Die Zähne werden dir ausfallen, wenn du so weitermachst«, schrie ich. »Und deine Knochen werden mürbe.«
Er blinzelte nervös und riss den Reißverschluss seiner Sportjacke ein Stück auf und zu.
»Vielleicht sind deine Organe schon geschädigt.«
Arne riss noch einmal an dem Reißverschluss und zog eine Zigarettenschachtel heraus.
Der Anblick der Zigaretten war zu viel.
»Hier wird nicht geraucht«, herrschte ich ihn an. »Hier trainieren Leistungssportler.«
Er nahm sich trotzdem eine Zigarette, zusammen mit einem Feuerzeug. Und hustete.
Ich rüttelte an seiner Schulter. »Siehst du?«
»Was?«
»Du hustest. Was du hier ablaufen lässt, ist ein Selbstvernichtungsprogramm.«
Arne steckte die Zigarette zurück in die Schachtel.
»Dann eben später.«
»Wer nichts isst, wird impotent!«
Auch das half nicht. Er wurde nur wieder einmal rot.
Ich stand auf, hastete die Treppe hinunter und war froh, als ich im Freien stand. Vielleicht hätte er damals noch eine Chance gehabt. Aber er wollte wohl keine.
Wir führten in den folgenden Wochen noch ein, zwei Telefongespräche. Ich schickte ihn zu Wissmann, und er ging zu meiner Verwunderung sogar ein- oder zweimal hin. Vielleicht sogar mir zuliebe. Gesehen habe ich ihn lange nicht. Zwei Jahre sicherlich.
Wie erwartet erwies er sich als zäh. Er hielt auch seinen eigenen Attacken stand.
Es war Heiligabend, als Arne das erste Mal richtig zusammen klappte.
Ich hatte Dienst im Krankenhaus, in der Notaufnahme, und es gab eine Menge zu tun. Weihnachten im Krankenhaus – das ist eine Stimmung wie auf der Baustelle, gemischt mit Einsamkeit und Depression. Also genau die passende Umgebung, um Arne wiederzusehen.
Ich wünschte mich fort, nach Hause zu Katja und meinen beiden Kleinen. Aber jemand muss sich um die Gestrandeten der heiligen Weihnacht kümmern, und diesmal hatte es mich getroffen.
Ich hatte gerade einem übergewichtigen Typen mit einer Gallenkolikeine Infusion mit Buscopan gelegt und versuchte, mich mit einer Tasse Tee zu erholen, als mein Kollege an die Tür klopfte. Ich saß am Tisch im Arztzimmer und fühlte mich todmüde. Um mich nur Ödnis. Da stand eine leere Sektflasche, mit deren Inhalt die Frühschicht die Feiertage eingeläutet hatte, und daneben ein Teller mit krümeligen Weihnachtsplätzchen. Auch das Gesicht, das der Kollege durch die Tür schob, sah müde und eingefallen aus, obwohl es erst fünf Uhr am Nachmittag war. Draußen war es dunkel, im Fenster stand ein Kerzengesteck, das noch nie angezündet worden war.
Der Kollege sagte:
»Dr. Alt – ich habe jemanden aufgenommen, der behauptet, er sei mit Ihnen bekannt. Er heißt Arne Hansen.«
»Arne? Weswegen ist er hier?«
»Schwächeanfall, Kreislaufzusammenbruch. Akute Unterernährung.«
Ich hatte ihn nicht ins Leben zurückquatschen können. Natürlich hatte er sich vom Psychiater nicht helfen lassen und weitergemacht mit seinem Programm, wie gehabt und wie gewollt. Ich starrte weiter auf das Gesteck mit der roten Kerze und dachte, er kotzt mich an, dieser Irre. Ich will da jetzt nicht hin. Ich
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