Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
erhöhten Harnsäurewerten) undvielem mehr. Dazu noch ab und zu eine Ultraschall- oder Röntgenkontrolle, eine Lungenfunktionsmessung und natürlich viele EKG s.
Ich hatte zunehmend den Eindruck, das Ganze hatte viel mehr mit einer Beschäftigungstherapie von Arzt und Patient zu tun als mit echten therapeutischen Überlegungen. Über die Problematik der ungünstigenWechselwirkungen zwischen den Medikamenten wurde kaum bis überhaupt nicht gesprochen. Dabei wusste ich von Kollegen, die in anderen Krankenhäusern arbeiteten, dass sie dort Ähnliches erlebten. Meine Erfahrung entsprach dem gültigen Standard einer modernen internistischen Abteilung. Das war vor 20Jahren. Auch heute gilt diese Praxis noch mit dem Unterschied, dass Krankenhäuser nicht mehr nach Behandlungstagen, sondern pauschal nach Diagnosen abrechnen.War man früher darauf bedacht, Patienten möglichst lange im Krankenhaus zu halten, werden sie heute eher schnell, manchmal zu schnell, entlassen.
Die Patienten kamen so gut wie nie auf die Idee, dieVerordnungspraxis des Doktors kritisch zu hinterfragen, selbst dann nicht, wenn sie mit der Empfehlung, 8Tabletten täglich zu schlucken, nach Hause geschickt wurden. Aber das Gefühl, dass etwas daran nicht gut ist, bewahrten sich doch viele. Denn oft landeten dieTabletten im Mülleimer oder lagerten massenweise in Schränken. Das habe ich oft erlebt, wenn ich in den Ferien alsVertreter eines Landarztes Hausbesuche absolvierte.Wenn ich einer bettlägerigen Patientin zum Beispiel ein Rezept ausstellen wollte, bekam ich nicht selten zur Antwort: » Doktor, schauen Sie mal in den Schrank, dort müsste noch was Passendes vom letzten Mal sein. « Wenn man dann die Schranktür öffnete, wurde auf einen Schlag klar, wo die Medikamente, die für Milliarden über die Apothekertheke gegangen waren, endgelagert wurden. In der Medizin heißt so ein Medikamentenstreik » mangelnde Compliance « , was so viel bedeutet wie » unzuverlässiger Patient « . Ich nenne es inzwischen » gesundes Körpergefühl « .
Röntgen, Sonografien, unzählige Laborwerte und Medikamente, derenVerordnung in herstellergesponserten Fortbildungen in großen Studien als richtig » bewiesen « wurde und deren Sinn sich mir trotzdem nicht erschließen wollte. Die Frage an den Patienten während derVisite im Krankenhaus » Geht es Ihnen mit den neuenTabletten besser? « wurde ersetzt durch: » Haben sich dieWerte normalisiert? « Wie sich der Patient fühlte, wurde nur am Rande bemerkt, wenn überhaupt.Während man also in der Chirurgie klar sah, ob eineWunde verheilt oder ein Knochen wieder belastbar war, wurde die Beurteilung des therapeutischen Erfolgs in der Inneren Medizin immer mehr ohne den Patienten gemacht. Es zählten lediglich das Erreichen von Laborwerten und die Medikation gemäßVerordnungsschemata. Daran wurde der Erfolg gemessen.Wie es dem Patienten dabei ging, ließ sich nicht messen und in ein Normwertsystem stecken, also interessierte es nicht, sondern störte sogar.
Der Trick mit den Normwerten
In allen Heilberufen neigt man generell dazu, eher zu viel zu behandeln als zu wenig, und das ist verständlich, man möchte ja schließlich helfen. Auch dassTherapeuten eher zu früh als zu spät behandeln wollen, ist nachvollziehbar. Man möchte nichts versäumen, und es ist keine schöneVorstellung, unter Umständen erkennen zu müssen, dass man einen Patienten vor den schlimmen Folgen einer Erkrankung hätte bewahren können, wenn man ihn früher zu einer wichtigen Untersuchung überwiesen oder früher eineTherapie eingeleitet hätte. Da geht es mir nicht anders.Wenn jedoch aus dem zu viel und zu früh ein reines Geschäftsmodell wird, durch das Millionen gesunde Menschen zu gefährdeten und angeblich kranken Patienten umgedeutet werden, dann lässt sich dies nicht mehr mit demWunsch rechtfertigen, nichts versäumen zu wollen. Hinter solchen Milliardengewinnen steckt kalte Berechnung, die auch über Leichen geht.
Am einfachsten lassen sich angeblich Kranke heute mithilfe von Normwerten aus dem Hut zaubern.Wie dieserTrick funktioniert, wird an den Beispielen Blutdruck, Blutzucker und Cholesterin deutlich. 1991, als ich noch als Assistenzarzt im Krankenhaus arbeitete, bekamen gesunde Patienten meist erst ab einem Blutdruckwert von über 160 / 100mmHg Medikamente. Heute gilt ein Patient mit einemWert von 140 / 90 als behandlungsbedürftig.
Der Cholesterinnormwert wurde in den 1950er Jahren bei etwa 260mg / dl fixiert. Seitdem
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