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Schleier der Traeume

Schleier der Traeume

Titel: Schleier der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Viehl
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katzenhafte Ratte.
    So eine bekloppte Idee
.
    Als sie noch eine obdachlose Ausreißerin gewesen war, hatte sie mitunter so eklig gestunken wie die Straßen. Wer in den Eingeweiden der weltgrößten Stadt lebte, dem stand kein Bad zur Verfügung, und gewisse hygienische Standards zu wahren war schwierig. Sooft sie sich auch gewaschen hatte: Sie hatte den scharfen, sauren Geruch der Stadt so sehr angenommen, dass sie damals befürchtete, nie wieder sauber zu werden. Manchmal war es so schlimm gewesen, dass sie sich gefragt hatte, ob die Stadt Nacht für Nacht ein riesiges, unsichtbares Bein hob und sie im Schlaf anpinkelte.
    Echt bekloppt
.
    Und was die Häuser ringsum betraf, erschien New York ihr so, wie sie es in Erinnerung hatte: als seelenloses, graues Labyrinth aus Beton und Stahl, das im elektrischen Licht wie im Dunkeln gleichermaßen kalt wirkte und ihr gegenüber so gleichgültig war wie sie gegenüber einer Ameise. Während sie ihren Helm mit dem Kettenschloss sicherte, das sie hinten am Sitz angebracht hatte, überlegte sie, warum die Stadt in den letzten Jahren nicht geschrumpft war, sondern noch immer so einschüchternd wirkte wie früher. Sicher würde sie gleich zumindest einen Anflug von Nostalgie nach dem Ort verspüren, an dem sie die schlimmste Zeit ihres jungen Lebens verbracht hatte.
    Doch das geschah nicht. Sie war ungebeten und allein nach Hause zurückgekehrt, und der Stadt war das weiterhin egal. Die Erkenntnis, dass sich nichts geändert hatte, entmutigte sie nicht, sondern machte sie bloß zornig.
    Scheiß auf New York
.
    Wut und Angst über das, was ihr hier angetan worden war, hatten ihr Leben lange genug vergiftet. Sie war gekommen, um sich von der Vergangenheit zu befreien und sich ihrer Angst endlich zu stellen. Sie würde sich nicht wieder von ihr erdrücken lassen.
    Und? Wie mag es wohl werden?
    Sie hatte das nicht vorgehabt, als sie die Autobahn verließ. Sie hatte die Ausfahrt genommen und hatte nur zum Fluss fahren, dort anhalten und sich die Stadt vom Hafen aus ansehen wollen. Sie hatte sich all die hervorragenden Gründe vor Augen geführt, warum sie auf dem westlichen, zu New Jersey gehörenden Ufer des Hudson bleiben musste, und dann war sie doch durch den Lincoln Tunnel gefahren und mit offenem Visier und suchendem Blick nach Norden abgebogen, Richtung Theaterviertel. Was sie suchte, wusste sie nicht recht, denn sie hatte nur ihre Unschuld in New York zurückgelassen und zwei Gräber.
    Drei Gräber
, verbesserte ihr kühl rechnender Kopf.
Die Schwestern sind tot, und der alte Mann ist es auch. Es gibt niemanden mehr, der weiß, wer oder wo oder was ich bin
.
    In wenigen Stunden würden die Straßen der Upper West Side voller Autos und Menschen sein, doch jetzt – vor dem Morgengrauen – waren nur einige Taxis und Streifenwagen unterwegs, und am Straßenrand parkten ein paar Laster mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Zu sehen, wie kistenweise Obst und Gemüse auf Sackkarren geladen und in Läden und Restaurants geschoben wurden, drehte ihr beinahe den Magen um. In ihrer Verzweiflung hatte sie einst Essen aus einigen Lieferwagen gestohlen, und beim Anblick all der unbewachten Herrlichkeiten bekam sie noch immer Hunger – und schämte sich.
    Rasch fuhr sie an ein paar teuren, ihr unbekannten Restaurants vorbei. Die Bomberjacke aus Leder, die sie auf der langen, eisigen Fahrt warm gehalten hatte, fühlte sich jetzt erdrückend an.
    Willkommen daheim, Rowan. Bitte sehr – eine kleine Panikattacke als Begleiterin für dein Selbstmitleid
. Ein Müllwagen fuhr vorbei und bespritzte ihr linkes Bein mit grauem Schneematsch.
Arschloch.
    An der nächsten Ampel hielt sie, setzte die Stiefel breitbeinig auf die Straße, öffnete den Reißverschluss und zog die Jacke aus. Als sie sie an den Ärmeln um die Taille band, sah sie, dass die beiden Shirts darunter schweißnass waren. Die Ärmelkanten schimmerten bläulich, und sie bekam eine Gänsehaut an den Armen. Hätte jemand sie in diesem Moment berührt, hätte sie sich nicht zu beherrschen vermocht.
    Etwas stimmte hier nicht, und das lag nicht an ihren hässlichen Erinnerungen an diese Stadt. Sie musterte die Gegend, bis sie ein paar junge Latinos entdeckte, die auf der anderen Straßenseite einen Rohbau besprayten.
Sei imma bereit dich zu verändan
verkündeten stilisierte Buchstaben im grellen Orange von Gefängnisoveralls und im stechenden Gelb von Warnschildern vor radioaktiver Strahlung. Andere, nicht minder künstlerische

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