Schleier der Traeume
nicht klappen, würde sie sich einmal mehr auf den Weg machen und weiterziehen. Es gab immer einen anderen Ort, eine andere Arbeit, eine andere Gelegenheit.
Doch zuvor musste sie ein Versprechen brechen – jenes Versprechen, das nie zu brechen sie sich geschworen hatte.
Die fadenscheinige, mottenzerfressene Decke der Winternacht, die kaum etwas bemäntelte und nichts schützte, hatte praktisch alle Gassen leer gefegt. Wenn die Temperatur fiel, verließen die Bewohner ihre jämmerlichen Nischen aus Holzkisten und Kartons. Draußen zu schlafen, wenn das Quecksilber unter minus sieben Grad Celsius sank, bedeutete nahezu zwangsläufig, den Kältetod zu sterben, und so zogen die Obdachlosen sich wie Ratten und streunende Hunde in die relative Sicherheit der U-Bahn-Tunnel und Abbruchhäuser zurück, wo der Frost sie nicht umbrachte.
Zwei Minuten bevor sie mit ihrem Motorrad verunglücken sollte, war Rowan ihr seltsamer Impuls, ein letztes Mal nach Hause zurückzukehren, endlich nicht mehr unangenehm. Niemand würde sie sehen, und nichts würde ihr in den Weg kommen. Auf der Strecke zum Friedhof würde sie die Stätten ihrer Jugend passieren und vor Sonnenaufgang durch die Bronx Richtung Norden weiterfahren.
Als sie um eine Kurve in eine schmale Seitenstraße einbog, traf sie etwas von hinten. Ihr Motorrad machte einen Satz nach vorn, und sie blickte sich in der Erwartung um, ein Auto habe sie touchiert.
Doch die Straße war leer.
Rowan sah auf ihren Tank, den sie eine gute Stunde zuvor frisch befüllt hatte. Wäre mit dem Benzin etwas nicht in Ordnung gewesen, hätte sich das längst bemerkbar gemacht. Doch das Motorrad war nicht schuld. Und sie hatte den Aufprall gespürt – etwas hatte sie getroffen.
Kalter Schweiß trat ihr in den Nacken, während sie beschleunigte, doch das in den Ohren pochende Blut übertönte sogar das Röhren des Motors.
Er weiß, dass ich hier bin
, flüsterte das völlig verängstigte Kind in ihrem Kopf.
Der Alte. Er ist hinter mir her
.
Blind vor Angst sah Rowan nicht, was ihren Vorderreifen zum Platzen brachte. Eben war sie noch durch die Dunkelheit gebraust, nun umklammerte sie die Lenkergriffe, weil das Motorrad ausbrach. Schwach hörte sie noch etwas platzen, als die Maschine kippte, und schon schlitterte sie über den Asphalt, die Welt stand Kopf, und die Stoßstange eines Autos raste ihr entgegen.
Im letzten Moment vor dem Zusammenprall erinnerte sich Rowan, warum sie sich gelobt hatte, niemals nach New York zurückzukehren. Sie hatte immer gefürchtet, in dieser Stadt zu sterben, falls sie es dennoch täte.
Und genau das würde nun geschehen.
»Ich salze weder Aubergine noch Zucchini«, sagte Bernard, »und koche auch nicht in getrennten Töpfen. Chef, wir sind in Amerika, nicht in Nizza. Hier geht alles ruckzuck. Niemand bemerkt den Unterschied.«
Jean-Marc Dansant wandte sich vor allem deshalb von seinem Souschef ab, um ihn nicht zu erwürgen. »Ich schon.«
»Die Dicke hat sich nicht beklagt oder das Essen zurückgehen lassen. Es war ihr egal.« Bernard warf die Hände zu seiner Lieblingsgeste in die Luft, einer Kombination aus Enttäuschung und Hilflosigkeit. »Das Gericht war prima. Ich mache die besten
Courgettes à la niçoise
.«
»
Naturellement
.« Der Küchenchef zog sein weißes Jackett aus und warf es in die Wäschetonne. »Nur leider, Bernard, hat sie Ratatouille bestellt.«
»
Je m’en fiche
.« Sein Souschef stolzierte durch die Hintertür davon. Kurz darauf waren quietschende Bremsen und schepperndes Metall aus der Seitenstraße zu hören.
Der Lärm beunruhigte Dansant nicht. Bestimmt hatte sein Souschef wieder die Mülltonnen umgefahren. Wenn Bernard zornig war, wusste man schon vorher, dass etwas passieren würde. Nachdem er den Blick ein letztes Mal durch die blitzblanke Küche hatte schweifen lassen, schaltete Dansant das Licht aus und ging nach draußen, um sich die Bescherung anzusehen.
Er hatte damit gerechnet, Abfälle zu riechen und sie quer über die Gasse verstreut zu sehen, aber ganz und gar nicht damit, dass ein Motorrad quer vor Bernards Volvo lag und sein Souschef sich über einen großen, hageren Jungen beugte, dessen Ledermontur arg verschrammt wirkte. Dann setzte der Biker den Helm ab, und unter dem zerzausten Lockenschopf kam das schmale, wütende Gesicht einer blassen Frau mit dunklen Augen zum Vorschein.
Im Profil wirkte sie sehr knochig, und ihre Haut war cremeweiß; die vornehme Nasenlinie passte nicht recht zu ihrem üppigen
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