Schnapsdrosseln - Kriminalroman
Mitschülerinnen auf den Mund geküßt hat! Weiterhin
sind Zettel mit unanständigen Witzen aufgetaucht, die von Ihrem Nachwuchs
stammen.
Er
ist seinen Mitschülern nicht nur ein schlechtes Beispiel, sondern verführt auch
zu unratsamem Verhalten. Das Nachsitzen konnte ihn bislang nicht von diesen
Taten abbringen.
Einige
Eltern haben mich gebeten, Siegfried künftig von Klassenfahrten und Ausflügen
auszuschließen. Falls sich sein Verhalten nicht bessert, sehe ich mich
gezwungen, entsprechende Schritte einzuleiten.
Ich
möchte Sie hiermit auffordern, mäßigenden Einfluß auf Ihren Sohn auszuüben.
Dies wäre vor allem deshalb zu wünschen, weil Siegfried einer der besten
Schüler der Klasse ist. Seine Leistungen sind in fast allen Fächern
überdurchschnittlich.
Es
wäre ein Verbrechen, wenn einem so begabten Kind durch Jugendsünden die Zukunft
verbaut würde. Aber auf Dauer wird sich sein Benehmen zweifellos negativ auf
die Benotungen auswirken.
Hochachtungsvoll
Karl-Heinz Wolfshohl
(Schulleiter)
Dass dieser Brief gerahmt an der Wand hing, dachte Julius
mit einem Schmunzeln, sagte noch mehr über den Rotweinmagier aus als der
Inhalt. Und der war schon die beste Beschreibung, die er je über Siggi
Schultze-Nögel gehört hatte.
Darunter hing ein Schwarzweißfoto, das ihn zwischen dem
Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und Udo Lindenberg zeigte. Beide
wirkten blass neben Siggi Schultze-Nögel. Er hatte einfach diese Ausstrahlung,
dieses Leuchten eines Gewinners, dieses »Alle Scheinwerfer auf mich!«.
Eigentlich sah er mehr wie ein Italiener aus und nicht wie ein waschechter
Eifeler. Er hatte Julius immer an den Stardesigner Colani erinnert, der auch
stets laut auftrat, sich niemals in eine Ecke stellte und Gläser in einem Zug
leerte.
Siggi trug auf dem Foto seine Lieblingsmaske. Ein Lachen.
Noch bevor Julius sich setzen konnte, kam ein weiterer Schatten auf
ihn zu. Aus dem dunklen Gang, der zu den Weinfässern führte, drangen schnelle
Schritte, und die Konturen seiner Großkusine schälten sich aus dem Zwielicht.
Der Kajal um die Augen war verschmiert, aber sie versuchte merklich, Haltung zu
bewahren. Gisela schloss ihn in die Arme. In diesem Moment der Nähe kam Julius
ihre gemeinsame Geschichte wieder in den Sinn. Wie es früher war, als sie noch
jung, oder besser: klein gewesen waren und ihre Eltern zusammen in Urlaub
gefahren waren. Wie er mit Gisela in Italien am Strand gespielt hatte. Wie sie
danach ganze Sommer miteinander verbrachten und auch Herbst und Winter, wie sie
als Kinder am Martinstag gemeinsam um die Häuser gezogen waren. »Dä hillije
Zintemätes« war ihr liebstes Lied gewesen. Sie hatten sich sehr nah gestanden,
fast wie Bruder und Schwester. Doch dann waren sie auf verschiedene Schulen
gegangen, hatten andere Freunde gefunden. Und plötzlich war es ein Thema
gewesen, ob man aus Dernau oder Heppingen kam. Heutzutage hatten sie nicht mehr
viel miteinander zu tun, aber diese Verbundenheit war noch da, deren Wurzeln vor
so langer Zeit gepflanzt worden waren. Julius nahm sich in diesem Moment fest
vor, sich wieder mehr um Gisela zu kümmern. Und es erschien ihm wie ein Rätsel,
warum sich zwei Menschen, die sich so mochten, so weit hatten auseinander leben
können.
Gisela lockerte ihre Umarmung. »Schön, dass du da bist.«
»Es tut mit sehr Leid, was mit Siggi passiert ist.«
Gisela nickte. Sie ist eine starke Frau, dachte Julius, auch in
dieser schweren Situation.
Sie wandte sich zur Familie. Erst jetzt fiel Julius die in Gold beschriebene
Magnumflasche auf, die Gisela in der Hand hielt.
»Kommt, lasst uns trinken. Siggi hätte das gewollt … Hier, sein
Lieblingswein, die 99er Dernauer
Pfarrwingert Spätburgunder Auslese ›Aurum‹. Sein ganzer Stolz …«
Sie hob die Flasche mit merklicher Anstrengung hoch. Julius konnte
sehen, wie die Trauer an ihren Kräften nagte.
»Lasst uns auf ihn anstoßen …«
Gisela schaffte es nicht, die Gläser zu füllen. Ein Weinkrampf
durchschüttelte sie. Jupp griff die Flasche und leerte sie in die vorbereiteten
Gläser. Wie Julius bemerkte, goss er sich selbst am meisten ein.
Nachdem Julius alle begrüßt hatte, stieg er die Treppe zur
Kelterhalle hinauf. Einerseits konnte er so viel Trübsal auf einmal nicht
ertragen, andererseits wollte er endlich wissen, was passiert war. Zwei Männer
in weißen Ganzkörperanzügen, wohl Beamte der Spurensicherung, standen in der
Ecke und rauchten. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Ansonsten
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