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Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Titel: Die Lady von Milkweed Manor (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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Prolog
    Als ich sie kennenlernte, hat sie mich anfangs eher belustigt. Sie wirkte fast ein wenig einfältig und war immer ein bisschen schmuddelig von den Morgenstunden, die sie gewöhnlich im Garten verbrachte. Wenn sie nicht draußen herumwerkelte, schien sie die ganze Zeit irgendwelchen poetischen Unsinn zu lesen und sich mit Vorliebe völlig abstruse Fragen auszudenken. Aber ich mochte sie und glaube, dass sie mich bewunderte. Ihr Vater schien durch mich hindurchzusehen. Am Schluss ließ er keinen Zweifel daran, dass er mich für absolut unpassend hielt, und zerstörte damit unsere keimende Freundschaft, noch bevor irgendetwas daraus erwachsen konnte. Ich hatte Miss Charlotte Lamb schon bald vergessen – jedenfalls bildete ich mir das ein.
    Die Jahre verstrichen. Als ich sie wiedersah, war sie sehr verändert. Nicht nur ihre äußere Situation hatte sich gewandelt – sie war in keiner Hinsicht mehr die privilegierte Tochter aus gutem Hause, sondern lebte in notvoller Armut –, ihr ganzes Wesen war ein anderes. Jedenfalls schien es mir so.
    Ihre Umwelt sah sie wahrscheinlich mit völlig anderen Augen. Ihr musste sie als eine Gefallene erscheinen, wie sie tiefer kaum sinken kann. Ein Geschöpf, das man vom Jackenärmel schnippt wie ein ekelerregendes Insekt. Vielleicht auch ein Insekt zum Quälen geschaffen für grausame Knaben, die sich einen Spaß machten, ihren unseligen Opfern erst einen und dann den anderen Flügel auszureißen und dann in morbider Schadenfreude zuzugucken, wie es sich hilflos am Boden krümmt.
    Für den weniger böswilligen Außenstehenden ist sie ein Wesen, das er schlimmstenfalls verachtet, bestenfalls ignoriert, ganz sicher aber nicht mit einem Gefühl der Hoffnung oder gar der Freude betrachtet. Tag für Tag Zeuge zu werden, wie sie sich verwandelte, wie sie inmitten dieser schmutzigen, abstoßenden Umgebung nicht etwa verkümmerte oder vertrocknete, sondern sich täglich mehr entfaltete, um schließlich ganz Anmut zu werden, ganz Sonne, Wind und Blume.
    Ich selbst kann natürlich nur aus der Entfernung zusehen – aus sicherer Entfernung für uns beide. Sicher für mich, den inzwischen verheirateten Mann, den angesehenen Arzt, und für sie, deren Ruf auf keinen Fall mehr leiden sollte – jedenfalls nicht, wenn es in meiner Macht steht, es zu verhindern.
    Und doch, wenn ich sie so beobachte zwischen den Seidenblumen, muss ich mir eingestehen, dass all diese Gedanken verblassen und dass ich nur noch an sie denke.
    Wie wunderschön sie ist. Nicht von einer abstrakten Schönheit, sondern mit ihrer Umgebung zu einem vollkommenen Ganzen verschmelzend, zu einem Gemälde am oberen Rand von reinstem Gold erfüllt, unter dem ein völlig außer Rand und Band geratener Garten wuchert – gold, grün, lila – Himmel und Erde. Und in der Mitte ihre stille Gestalt, die nicht zu mir, sondern zu einem fernen Horizont blickt, von dem die Sonne ihre ersten Strahlen über die Seidenblumen wirft, über ihre milchweiße Haut, ihr Haar, ihr Kleid.
    Das Licht bewegt sich auf mich zu und ich bin still, sprachlos. Ein spitzer Stachel des Wartens erfüllt meine Brust und ich kann kaum atmen. Wenn ich mich nicht bewege, wird das Licht mich erreichen und das Gemälde auch mich in sich aufnehmen. Wenn ich zurücktrete, zurück in den Schatten, werde ich sicher sein, aber ich werde nicht sehen, wie sie sich schließlich erhebt und ihre Flügel ausbreitet …
    Lieber Gott. Wache über mich. Und segne Miss Charlotte Lamb.

Teil I

    Die kleine Kostbarkeit, der Samen der Seidenblume,
gab ein wunderbares Spielzeug ab.
In unserem Garten wurde die Pflanze gnadenlos ausgerottet,
doch sie eroberte kühn ein Nachbarfeld und lieferte uns das Material für Märchenwiegen mit winzigen Kissen aus Silberseide.

Alice Morse Earle, Old-Time Gardens

    Gab mein Heiland nicht sein Blut,
ging mein Herr nicht aus dem Leben?
Hat sein höchstes, heil'ges Gut
für mich Sünderwurm gegeben?

Isaac Watts

1
    Die Seidenblume bedarf keiner Einführung. Jedes Kind kennt und liebt ihre hübschen Samenkapseln, jedenfalls so lange, bis sie sich an dem geheimen Ort, an dem es sie gehortet hat, in eine nicht mehr wiederzuerkennende, unappetitliche Masse verwandelt haben.
    F. Schuyler Mathews, Naturforscher des 19. Jahrhunderts
    Sorgsam legte die zwanzigjährige Charlotte Lamb ein Kleidungsstück nach dem anderen in die Truhe. Einmal hielt sie einen Augenblick inne und wog das seidige Gewicht einer himmelblauen Ballrobe auf dem Arm. Es war ihr

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