Schnapsdrosseln - Kriminalroman
der »Landplage«,
wie Julius sie zu nennen pflegte. Auch die Polizei war schon mit zwei
Einsatzwagen angerückt. Julius ging den Abhang hinunter zur hölzernen
Eingangstür der Weinprobierstube. Noch ehe er klingeln konnte, öffnete ihm
Onkel Jupp, wie stets Zigarette rauchend, die Tür.
»Ich hab dich schon kommen sehen, Julius. Rein mit dir! – Ist
das zu glauben? Wer macht so was? Kannst du mir sagen, wer so was macht? Ich
fass es nicht, ich fass es einfach nicht! Er war ein großer Mann, ein echter
Künstler! Was er alles fürs Tal getan hat!«
Da hatte er Recht, was hatte Siggi nicht alles fürs Tal getan.
Damals als Erster mit den kleinen französischen Fässern angefangen, den
Barriques, ohne die Rotweine internationaler Qualität gar nicht möglich waren.
Noch wichtiger war sicherlich, dass er eine neue Ideologie etablierte: Klasse
statt Masse. Das war schwer in die Köpfe derer zu kriegen, die jahrzehntelang
andersherum gedacht hatten. Und er hatte die Türen geöffnet für höhere
Verkaufspreise. Er hatte sich einfach getraut, mehr zu verlangen. »Qualität
muss kosten!«, war sein Leitspruch gewesen. Siggi hatte die Wege geebnet, über
die alle Folgenden dann gegangen waren.
Aber nicht nur deswegen hatte die Region einen großen Verlust
erlitten, dachte Julius betrübt. Sie hatte auch einen besonderen Menschen
verloren. Einen, wie es ihn kein zweites Mal gab. Julius’ Beziehung zum
Rotweinmagier war stets vom Geschäft bestimmt, und doch waren die Treffen mit Siegfried
Schultze-Nögel immer etwas Besonderes gewesen. Sie würden ihm fehlen.
Wie ein stählernes Hundehalsband schloss sich Onkel Jupps Hand um
Julius’ Nacken und zog ihn hinein in die dunkle Stube. Aufgereiht wie Hühner
hockte die Sippe da, die Blicke zu Boden gesenkt. In einer Ecke fanden sich
auch die polnischen Erntehelfer, denen die Unsicherheit angesichts der
tragischen Situation deutlich anzumerken war. Der kleine holzgetäfelte Raum
wirkte mit den vielen Menschen eng wie eine Sauna. Nur dass keine Nackten darin
saßen, sondern die Landplage, die es für angebracht hielt, in den besten
Kleidern und Anzügen ihre Aufwartung zu machen. Onkel Jupp redete unverdrossen
weiter auf Julius ein, dankbar für ein frisches Opfer:
»Wer bringt so einen um? Im neuen Maischebottich,
ist das zu glauben?« Er boxte ihn auf die Brust. »Den hat der Siggi erst dieses
Jahr aus Frankreich geholt. Ist schon ein tolles Ding. Fasst über dreitausend
Liter! Stell dir das vor! Und das Holz ist ganz fein gemasert! Allererste
Qualität, sag ich dir. Da muss der Wein gut drin
werden. Ich mein, den Frühburgunder, der drin war, kannst du jetzt natürlich
vergessen. Schade drum!«
Aus der hintersten Ecke der Sauna löste sich ein bulliger Schatten,
rollte mit zwei schweren Schritten heran und baute sich vor Jupp auf.
»Kannst du vielleicht endlich mal deine Schnüss halten?! Der Siggi
ist tot, und du erzählst hier über den Maischebottich! Bist du noch ganz
beisammen?«
Es war Willi, der jede Gelegenheit nutzte, den ungeliebten
Verwandten zusammenzustauchen. Onkel Jupp drehte sich darauf pikiert um und
nahm vor dem Fenster Stellung, um weitere Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen.
»Von dir lass ich mir doch überhaupt nix sagen!«, murmelte er in
seinen Zigarettenrauch.
Willi zog sich wieder auf seinen Platz zurück, um weiter den Boden
anzustarren.
Julius’ Blick fiel auf ein in Gold gerahmtes Dokument, das im
Eingangsbereich des Verkostungsraumes hing. Er hatte es früher schon gesehen,
aber noch nie die Zeit gefunden, es zu lesen. Es war in einer Handschrift
verfasst, wie sie heute nicht mehr zu finden war. Jeder Buchstabe ein
Kunstwerk.
Sehr geehrte Frau Schultze-Nögel,
leider
sehe ich mich genötigt, diesen Brief an Sie zu schreiben. Die Beschwerden, die
von Lehrern, Eltern und Mitschülern bezüglich Ihres Sohnes Siegfried an uns
herangetragen wurden, haben sich in einem unerträglichen Maße gehäuft. Ihr Sohn
stört wiederholt den Unterricht, indem er unflätige Bemerkungen dazwischenruft
oder Geräusche verursacht, die an Flatulenz erinnern. Es vergeht kaum ein Tag
ohne einen Eintrag ins Klassenbuch. Häufig muß Siegfried des Raumes verwiesen
werden, damit seine Mitschüler einem geordneten Unterricht folgen können. Dies
ist nicht zu dulden.
Auch
in den Pausen kommt es vermehrt zu unerwünschten Handlungen seitens Ihres
Sohnes. So hat mich die Klassenlehrerin, Frau Hohenschurz, davon in Kenntnis
gesetzt, daß er mehrmals
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