Schnee an der Riviera
des stellvertretenden Polizeipräsidenten betrat.
»Nelly, guten Morgen. Wir scheinen heute guter Dinge zu sein«, empfing er sie mit einem breiten Grinsen.
»Ich habe auch allen Grund dazu, Tano. Ich habe höchstwahrscheinlich Pacos Schlupfwinkel entdeckt. Und auch die Wohnung, die Angehörige der Genueser High Society für ihre amourösen Treffen nutzen.«
Diese letzte Neuigkeit war ein Leckerbissen für ihn. Seine Augen blitzten.
»Spannen Sie mich nicht auf die Folter, erzählen Sie schon!«
Valeria staunte. Dottoressa Rosso war nun schon seit über einer Stunde beim Vizechef und wollte gar nicht mehr herauskommen. Valeria war von Natur aus unfähig, schlecht von anderen zu denken, insbesondere von Nelly, insofern kam sie nicht auf die Idee, dies könne rein private und ganz unprofessionelle Gründe haben, aber sie war doch verblüfft. Ob die Ermittlungen nun vor der entscheidenden Wende standen? Hoffentlich, dann wäre die Kommissarin vielleicht endlich wieder so ausgeglichen und heiter wie früher und nicht dieses Nervenbündel, das sie manchmal ohne jede Sympathie musterte, als sei sie eine Fremde. Ach, das war aber auch eine unschöne Geschichte, und dann war auch noch ihr Sohn Maurizio darin verwickelt. Das war hart für eine Mutter. Einen Moment lang dachte sie an ihre beiden Mädchen, die gerade anfingen, sie infrage zu stellen, zu kritisieren. Die sie manchmal kaum wiedererkannte. Wenn sie jemals in eine solche Sache verstrickt wären, wie würde sie wohl reagieren? Sie erschauderte leicht. Besser gar nicht darüber nachdenken, wozu sich heute mit den Sorgen von morgen belasten? Doch ein Schatten hatte ihr Herz gestreift. Die langen Jahre voller Angst mit dem geliebten, drogenabhängigen Mann kamen ihr wieder in den Sinn. Mühsam riss sich Valeria zusammen und kehrte zu den Papierbergen zurück, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten.
Sie war ganz in die Arbeit vertieft, als die Tür aufging und Bianchi den Kopf hereinstreckte. Er atmete schwer, so als sei er gerannt.
»Ist Dottoressa Rosso hier?«
»Sie ist beim Vize...«
Valeria konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Die Tür schlug zu, Bianchi war offenbar schon in Tanos Büro gestürzt. Ja, insgeheim nannte auch Valeria ihren attraktiven Vorgesetzten so. Nicht, dass sie sich irgendwelche Chancen ausgerechnet oder es gar auf eine Affäre angelegt hätte. Um Himmels willen, nein. Es ging ihr gut mit Mario. Er war so solide, zuverlässig, der sichere Hafen nach den Stürmen. Aber was ist eine Frau ohne Phantasien? Tano Esposito war nun mal der Prototyp eines Abenteuers, von dem jede Frau träumte. Das war nicht seine Schuld und auch nicht die der Frauen. Es war einfach so. Nun spitzte Valeria neugierig die Ohren in Richtung seines Büros. Sie konnte sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Es war klar, dass entscheidende Dinge vor sich gingen. Wenige Minuten später tauchte Gerolamo in der Tür auf, und es wiederholte sich die gleiche Szene wie bei Bianchi. Valeria wünschte sich, eine Fliege zu sein und in Tanos Büro brummen zu können, um die neusten Entwicklungen mitzubekommen. Denn die gab es, das war mal sicher. Aber sie war eben immer die Letzte, die etwas erfuhr, zum Kuckuck damit!
Nach einer weiteren halben Ewigkeit verließen Nelly und Gerolamo das Büro des stellvertretenden Polizeichefs. Jeder von ihnen schien ganz genau zu wissen, was er zu tun hatte. Der Assistent verschwand in null Komma nichts die Treppen hinunter, er benutzte nie den Aufzug, und Nelly kam türenschwingend hereingestürmt. Valeria sah, dass ein ernster, fast düsterer Ausdruck auf ihrem geröteten Gesicht lag. Keine Spur von Triumph, von Befriedigung über einen gelösten Fall. Sie war angespannt, ihre zusammengepressten Lippen ein schmaler Strich. Die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen lud nicht eben zu Fragen oder Kommentaren ein. Die Polizeibeamtin musste sich auf die Lippen beißen, um sich zurückzuhalten. Nelly verschwand in ihrem Büro, ohne sie anzusehen, und schloss wortlos die Tür hinter sich.
»Heilige Mutter Gottes, was mag denn nun wieder passiert sein? Von wegen gelöster Fall«, murmelte Valeria bei sich. Lustlos machte sie sich wieder an die Arbeit.
NEUNTER TAG
Nachmittag
Nelly schaute aus dem Fenster auf den Park, der den Corso Aurelio Saffi begrenzte, den Kopf gedankenleer. Ein Bild nach dem anderen tauchte in ihrem Geist auf, völlig uneingeladen: Mau bei seinen ersten, wackeligen Schrittchen, so pummelig, wie er
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