Schnee an der Riviera
Philippinin die Tür, und Miriams Mutter empfing sie mit kalter Neugier. Dem Akzent nach war sie Ausländerin, Schweizerin, wie sich auf Nellys Frage hin herausstellte. Sie war eine attraktive, schlanke, sorgfältig geschminkte Frau mit perfekt frisiertem, mittellangem rotblonden Haar. Hinter ihr tauchte die Tochter auf. Der direkte Vergleich machte den Gegensatz zwischen den beiden noch augenfälliger. Unwillkürlich tauschten Nelly und Gerolamo einen Blick. Miriam war kleiner als die Mutter, dicklich und plump. Sie hatte ein pausbäckiges Gesicht und Haare von undefinierbarer Farbe, die ihr bis zu den Schultern reichten und von künstlichen blonden Strähnen durchzogen waren. Einzig die malvenfarbenen Augen hatte sie von ihrer schönen Mutter geerbt, doch selbst die waren blasser als das Original, farblos, wie alles an ihr. Sie wirkte schüchtern und unsicher. Ihr Blick huschte hin und her, die Hände waren nervös.
»Bitte stellen Sie meiner Tochter nicht allzu viele Fragen. Sie darf sich nicht aufregen, wissen Sie, sie ist Epileptikerin. Nach dem schrecklichen Vorfall an der Schule hatte sie einen Anfall ...«
»Ach, Mama, nerv nicht, mir geht’s wieder gut, sei doch nicht immer so gluckig!«
»Ich würde gern wissen, was du gestern gesehen und gehört hast, ehe du deinen epileptischen Anfall hattest«, sagte Nelly freundlich lächelnd.
»Nicht viel, Sie wissen ja, mir ging’s schlecht, als Franci rausgerannt ist und ich die Galli am Boden liegen sah, all das Blut ...«
Sie erschauderte und schloss die Augen.
»Und wann bist du wieder zu dir gekommen?«
»Ich lag im Krankenwagen, Monica saß neben mir.«
Beim Namen der Freundin leuchteten Miriams Augen auf. Die selbstsichere, bestechend schöne und dazu so willensstarke Monica musste diesem unbeholfenen Mädchen wie eine wahre Elfe erscheinen. Doch was fand Monica an Miriam, dass sie so viel Zeit mit ihr verbrachte? Man konnte sich kein ungleicheres Paar vorstellen.
»Monica ist die ganze Zeit bei mir gewesen«, schob Miriam ostentativ hinterher.
Nelly wandte sich an die Mutter.
»Wann ist Monica heute weggegangen, Signora?«
Miriams Mutter seufzte.
»Keine Ahnung. Ich leite eine Public-Relations-Agentur in der Stadt, dort bin ich von neun bis sechs, theoretisch. Tatsächlich komme ich leider häufig erst spätabends aus dem Büro. Miriams Vater und ich sind getrennt, ich muss alleine für uns sorgen. Dass ich heute schon hier bin, ist reiner Zufall. Aber als ich gegen halb sechs gekommen bin, hat Miriam gesagt, Monica sei gerade weg.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete die Tochter ihr bei.
Nelly überlegte, dass Monica ungefähr gegen drei nach Hause gekommen war. Wieso hatte die Freundin eine – wenn auch nur kleine – Lüge erzählt?
»Lebt deine Großmutter hier bei euch, Miriam?«, fragte Nelly unvermittelt.
Die Mutter – sie hieß Gudrun – sah sie verwundert an.
»Die Mutter meines Exmannes. Aber die lebt nicht mit uns zusammen, sondern in dem Haus dort hinten.«
Sie zeigte aus dem Fenster auf ein kleines, gelbes Häuschen.
»Sie wohnt mit einer Dame zusammen, die sich um sie kümmert und ihr Gesellschaft leistet, es geht ihr gesundheitlich nicht sonderlich gut.«
»Sie hat Alzheimer«, sagte Miriam in dem typisch verächtlichen Ton, den Jugendliche gegenüber Alter und Krankheit haben.
»Sie hat kein Alzheimer«, korrigierte die Mutter sie und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sie leidet unter kleinen Amnesien, Durchblutungsstörungen im Gehirn, ich weiß nicht, was genau ... jedenfalls ist es kein Alzheimer.«
»War deine Großmutter heute hier?«
»Ja«, stieß Miriam genervt hervor.
Dann sagte sie hastig: »Sie war auch da, als Monicas Mutter angerufen hat, und hat ihr einen Haufen Schwachsinn erzählt. Ich wollte schon was sagen, weil ich sie gehört habe, aber ich war oben und hab’s nicht rechtzeitig nach unten geschafft.«
Wieder dieser stolze, wackere Blick, wie ein kleiner Soldat, der seine Pflicht getan hat. Welche Pflicht? Monica zu decken? Oder sah Nelly Gespenster? Die Mutter blickte sie verdutzt an. Offenbar kam auch ihr etwas spanisch vor.
»Ich hab gehört, du und Monica verbringt viel Zeit miteinander.«
»Ich bin ihre beste Freundin«, erwiderte Miriam stolz.
»Ja, das hat sie mir gesagt. Sie hat mir auch gesagt, du seiest die Einzige, die von ihr und Habib weiß.«
Die ausdruckslosen, großen Augen in dem runden Gesicht weiteten sich verdattert, die Lippen öffneten sich leicht.
»Das kann gar
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