Schnee an der Riviera
dass etwas nicht stimmte, und nicht einmal ihr Mutterherz konnte sie davon abbringen.
ERSTER TAG
Abend
Mau schlief so tief, wie nur Kinder und Teenager schlafen. Nachdem er schweigend und zur Verwunderung seiner Mutter mit gewohnt großem Appetit gegessen hatte, hatte er sich vor dem Schlafengehen einen doppelten Kamillentee gemacht – er war Vegetarier und hatte eine Schwäche für die seltsamsten Kräuter. Er kannte sie alle; auch indischen Hanf?, überlegte Nelly, während sie von ihrer Terrasse aus auf die flimmernden Lichter der Stadt hinaussah und auf den Strahl des Leuchtturmes, der kalt durch die Nacht strich wie der erbarmungslose Scheinwerfer eines Gefängnisses. Die düstere Altstadt mit ihren Gassen, den Dealern, den Immigranten und nach Abenteuern lechzenden Studenten erschien ihr plötzlich wie ein heimtückisch lauernder Feind. Nelly goss sich mit ruhiger Hand zwei Finger Whiskey, genauer gesagt, Four Roses ohne alles ein und fragte sich wie so viele andere Eltern, was sie wohl falsch gemacht, was sie nicht gesehen hatte, nicht hatte sehen wollen? »Ausgerechnet ich, verdammt noch mal, bei meiner eigenen Vergangenheit und meinem Job, der mich ständig mit allen nur denkbaren Scheußlichkeiten konfrontiert, ich hab geglaubt, in meinem privaten kleinen Paradiesgarten gäbe es keine Nattern und Schlangen. Vielleicht habe ich geglaubt, nach so viel Leid, Herzschmerz und quälender Selbstsuche hätte ich ein ruhiges Leben verdient. Hätte ich ein Recht darauf.«
Mau war ein derart unkompliziertes, an der Mutter hängendes Kind gewesen. Ein sensibler Welpe mit jähen Wutattacken, der am allerliebsten zeichnete. Ein normaler Junge, aber was heißt schon normal? Über Hasch und Marihuana hatten sie schon bis zum Abwinken gesprochen, da war er gerade mal zehn Jahre alt gewesen. Nelly hatte ihn ganz selbstverständlich auf die Gefahren hingewiesen und nicht damit hinterm Berg gehalten, dass sie als Studentin selbst geraucht und die unterschiedlichsten mehr oder weniger leichten Drogen ausprobiert hatte, die ihren gesunden Menschenverstand und ihre Unabhängigkeit in Gefahr gebracht hatten. Sie hatte ihm erzählt, wie sie mit seinem Vater aufgehört hatte, bei Problemen sofort zum Joint zu greifen. Mit diesem jungen und derart unorthodoxen Soziologiestudenten, der zur Polizei gehen wollte, um die Dinge von innen statt von außen zu ändern. Anfangs hatte Mau geduldig, dann immer genervter zugehört. Er wisse ganz genau, was er tue. Und seine Freunde seien allesamt Heilige, die nie etwas getan hätten oder tun würden, sagte er und hatte es auch in den folgenden Jahren immer wieder beteuert.
»Du hast mich richtig schön verarscht, Mau. Genau wie ich meine Eltern verarscht habe. Wie alle Kinder ihre Eltern verarschen, die glauben, ihres sei ein Unschuldsengel, die große Ausnahme, bis sie eines Besseren belehrt werden. Wie weit seid ihr gegangen, Franci und du? Wirklich nur wegen eines Krümelchens Hasch ... Schon möglich, in dem Alter, der Schiss, das schlechte Gewissen, aber irgendwas stimmt da nicht. Wieso stehen alle meine Antennen auf Empfang?«
Die Terrasse war abends noch schöner als sonst. Der Jasmin hatte angefangen zu blühen und verströmte nachts seinen Duft. Die kleine Glyzinie hatte dank Maus Fürsorge schon seit geraumer Zeit ihr Kletterabenteuer entlang der Mauer begonnen. Wer war ihr Sohn? Einer der fraglosesten und verlässlichsten Bestandteile ihres Lebens. Bis zu diesem Morgen. Ein langer, schlaksiger, pickeliger Junge, der gern Bob Marley und Santana, Rock und Blues hörte, der Poster von den Simpsons und von Che Guevara an den Wänden hatte, sich als no global bezeichnete und sich gegen das Dafürhalten seiner Mutter Dreadlocks hatte wachsen lassen. Der sich während des G8-Gipfels gegen sie gestellt, an den Friedensdemonstrationen teilgenommen und sie für das, was hinterher passiert war, mitverantwortlich gemacht hatte. Eine miese Zeit, an die Nelly stets mit Beklommenheit zurückdachte. Doch ihre Beziehung war unerschütterlich, und Mau hatte die Aufrichtigkeit der Mutter nie infrage gestellt. Ein bitterer Beigeschmack war jedoch beiden geblieben. Und jetzt das!
»Ich habe vergessen, wie ich war. Wie konnte mir das passieren? Bin ich von meiner Jugend wirklich so weit entfernt? Bin ich wirklich so geworden, wie meine eigenen Eltern, eine Erwachsene, die sich nicht mehr erinnert, jemals jung gewesen zu sein? Bin ich denn über den durchschnittlichen Konsum weicher und harter
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