Morphium
Prolog
» E linor Katharine Carlisle. Sie sind angeklagt des Mordes an Mary Gerrard, begangen am 27. Juli dieses Jahres. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht schuldig?«
Elinor Carlisle stand sehr gerade, den Kopf erhoben. Es war ein anmutiger Kopf, das Gesicht klar und gut geschnitten. Die Augen waren von tiefem Blau, die Haare schwarz, die Brauen bis auf eine schmale Linie gezupft. Schweigen – ein deutlich wahrnehmbares Schweigen. Sir Edwin Bulmer, der Verteidiger, dachte bestürzt: Mein Gott, sie wird sich schuldig bekennen… Die Nerven haben sie im Stich gelassen…
Elinor Carlisles Lippen öffneten sich: »Nicht schuldig.«
Der Verteidiger lehnte sich zurück. Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn – um ein Haar wäre die Sache schief gegangen!
Der Staatsanwalt, Sir Samuel Attenbury, erhob sich und skizzierte den Fall noch einmal.
»Eure Lordschaft, meine Herren Geschworenen, am 27. Juli um halb vier Uhr nachmittags starb Mary Gerrard in Hunterbury in Maidensford…«
Er sprach weiter, wohlklingend, angenehm; seine Stimme lullte Elinor ein. Aus der einfachen, knappen Zusammenfassung drang hie und da ein Satz in ihr Bewusstsein.
»… Der Fall ist ein besonders einfacher und klarer…«
»… Es ist Pflicht der Staatsanwaltschaft, das Motiv und die Gelegenheit zu beweisen…«
»… Soweit man es beurteilen kann, hatte niemand einen Grund, dieses unglückliche Mädchen zu töten, außer der Angeklagten. Mary Gerrard, ein liebenswürdiges junges Mädchen – bei jedermann beliebt – man könnte sagen, ohne jeden Feind…«
Mary, Mary Gerrard! Wie fern das alles jetzt schien! Gar nicht mehr wirklich…
»Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit besonders auf die folgenden Erwägungen lenken:
1. Welche Gelegenheiten und Mittel hatte die Angeklagte, um Gift zu verabreichen?
2. Welches Motiv hatte sie?
Es wird meine Pflicht sein, Zeugen aufzurufen, die Ihnen helfen sollen, die richtigen Antworten auf diese Fragen zu finden…«
»Ich werde mich hinsichtlich der Vergiftung von Mary Gerrard bemühen, Ihnen zu zeigen, dass niemand Gelegenheit hatte, dieses Verbrechen zu begehen, außer der Angeklagten…«
Elinor fühlte sich wie in einem dichten Nebel gefangen. Nur noch vereinzelte Worte drangen bis zu ihr durch.
»… Belegte Brötchen…«
»… Fischpaste…«
»… Leeres Haus…«
Die Worte stachen durch die dichte Hülle ihrer Gedanken – wie Nadelstiche durch einen Schleier…
Das Gericht. Gesichter. Reihen von Gesichtern! Besonders ein Gesicht mit großem schwarzem Schnurrbart und klugen Augen. Hercule Poirot, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, beobachtete sie mit nachdenklichen Augen. Sie dachte: Er bemüht sich, ganz genau zu sehen, warum ich es tat… Er versucht, sich in mich hineinzuversetzen, um zu begreifen, was ich dachte – was ich fühlte…
Fühlte…? Ein verwischter Fleck – ein leicht übles Gefühl von Schreck… Roddys Gesicht – sein liebes, liebes Gesicht mit der länglichen Nase, dem empfindsamen Mund… Roddy! Immer Roddy! – Immer, seit sie denken konnte… seit jenen Tagen in Hunterbury in den Himbeeren und oben bei den Kaninchen und unten am Bach, Roddy – Roddy – Roddy…
Andere Gesichter! Schwester O’Brien mit leicht geöffnetem Mund, das sommersprossige frische Gesicht vorgestreckt. Schwester Hopkins – ehrbar und unerbittlich. Peter Lords Gesicht – Peter Lord – so gütig, so vernünftig, so – so tröstlich! Doch jetzt sah er – wie sah er nur aus verloren? Ja – verloren! Bekümmert – entsetzlich bekümmert über all das! Während sie, die Hauptperson, gar nicht bekümmert war!
Da stand sie ganz kühl und ruhig in der Anklagebank, des Mordes angeklagt. Vor Gericht stand sie.
Etwas rührte sich in ihr; die dichten Schleier um ihr Hirn lichteten sich – wurden geisterhaft dünn. Vor Gericht!… Leute… Leute, die sich vorbeugten, mit offenen Mündern, hervorquellenden Augen, die sie, Elinor, mit widerlicher Sensationsgier anstarrten – die mit trägem, grausamem Wohlgefallen dem lauschten, was der Mann mit der krummen Nase über sie sagte.
»Die Tatsachen in diesem Fall sind außerordentlich leicht darzustellen und unbestritten. Von allem Anfang an…«
Der Anfang… Der Anfang? Der Tag, an dem der scheußliche, anonyme Brief kam! Das war der Anfang…
1
E in anonymer Brief!
Elinor Carlisle stand da wie versteinert. Sie hatte noch nie so etwas bekommen. Es war kein angenehmes Gefühl. Ungelenk geschrieben, mit
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