Schnee an der Riviera
gewaltsamer Einbruch in die intimste Privatsphäre ihrer Tochter, doch sie konnten nichts dagegen tun.
Da war Miriam, als dicke Kröte dargestellt, fett und mit vorspringenden, fast obszön dreinblickenden Augen. Ihre Herzensfreundin kam auf diesem Porträt nicht sonderlich gut weg. Es war ganz neu, laut Datum gerade mal zwei Tage alt.
»Merkwürdig«, dachte Nelly flüchtig, »vielleicht war die demonstrativ zur Schau gestellte Freundschaft für Monica nichts weiter als eine Attrappe, hinter der sie sich mehr Freiheiten erlauben konnte.«
Nelly empfand plötzlich Mitleid mit Miriam, deren Zuneigung für die Freundin ihr durch und durch aufrichtig erschienen war.
Kein Zweifel, dies waren mehr als nur oberflächliche Porträts.
Es waren surreal geprägte Psychogramme, Versuche einer talentierten Künstlerin, das Wesen des Motivs zu erfassen.
Es gab auch Bilder von Monicas Brüdern und Schwestern, einige waren als Waldelfen, andere als gehässige Ferkel dargestellt; da war Matteo Albini, als Boxer gekleidet, mit einer riesigen Narbe im Gesicht und dem stumpfen Blick eines abgehalfterten Schlägers, finster und abstoßend, und nach einigen Lehrern und Schuldienern, die ebenfalls nicht besonders gut abschnitten, kam sie, Monica. Das Selbstporträt. Sie hatte sich dargestellt wie ... o Himmel, wie die Ahnin auf dem Gemälde, die geheimnisvolle Caterina, nur dass Monica vollkommen nackt war und ihr unergründliches, abwesendes Lächeln lächelte. Sie hielt etwas in der Hand, doch Nelly konnte es nicht recht erkennen. Es sah aus wie ein Kästchen oder eine Schachtel oder etwas Ähnliches. Diese teils mit Kohle gezeichneten, teils sorgfältig mit Temperafarben ausgearbeiteten Porträts waren zugleich faszinierend und beunruhigend, genau wie ihre Schöpferin. Sie verrieten viel über ihren rastlosen Charakter, und vor allem konnten sie vielleicht bei den Ermittlungen weiterhelfen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich sie gerne mitnehmen und in Ruhe studieren. Sie könnten sachdienliche Hinweise enthalten.«
»Ich wüsste nicht, was ...«
Federica streckte sich schützend nach den Arbeiten ihrer Tochter. Sie jemand Fremdem zu überlassen – einer Rivalin in Monicas Herzen zumal –, war, als würde sie ihr Kind ein zweites Mal verlieren. Ihr Mann legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Lass die Dottoressa machen, Liebes. Es ist ihr Job. Wenn sie ihr weiterhelfen, warum nicht? Das Wichtigste ist, unsere Tochter heil und gesund wiederzufinden.«
Gerolamo hatte derweil vollkommen lautlos das Zimmer in Augenschein genommen und auf der Suche nach einem Tagebuch oder irgendwelchen Aufzeichnungen sämtliche Schubladen geöffnet, doch ohne Erfolg.
Federica hatte jede seiner Bewegungen mit zornig zusammengepressten Lippen verfolgt.
»Ich werde jemanden für die Fingerabdrücke vorbeischicken Aber sind Sie sich sicher, dass Monica nicht einfach weggelaufen ist, weil sie die Nase voll davon hatte, unter Bewachung zu stehen? Sie ist ein ziemlich unabhängiger Typ. Es fehlen ein paar Kleidungsstücke und eine Tasche. Und wären die Umstände nicht die gegebenen, gäbe es kaum Anlass zur Besorgnis.«
»Mag sein, und es ist sehr gut möglich, dass sie uns nur einen Denkzettel verpassen will, aber wo ist sie? Und wie Sie schon sagten, Dottoressa Rosso, diese Situation lässt einen alles andere als gelassen bleiben. Ich fürchte, ich hätte ihren Worte gestern mehr Beachtung schenken sollen«, murmelte Gianandrea.
»Immerhin stand Monica unter der Obhut dieses Albini, Ihres Faktotums, also haben Sie sie doch gewissermaßen bewachen und beschützen lassen, Dottor Pittaluga. Momentan scheint es also naheliegend, dass sie dieser Kontrolle entgehen wollte. Sie haben ihr natürlich gesagt, dass sie sich nicht mehr vollkommen frei würde bewegen können, und zwar zu ihrem eigenen Besten, und das hat ihr nicht geschmeckt. Wo sie geblieben sein könnte, müssten Sie am ehesten wissen, Sie kennen sie am besten.«
Nelly verschwieg, dass das Mädchen auch unter polizeilicher Beobachtung gestanden und sich dieser ebenfalls entzogen hatte. Das wäre zu peinlich gewesen.
»Sagen Sie: Kann man das Haus nur durch den Haupteingang verlassen?«
»Natürlich nicht, Dottoressa«, entgegnete Gianandrea mit süffisantem Lächeln. »Direkt an der Villa führt die Creuza ins Zentrum vorbei. Man erreicht sie durch ein Törchen, weiter unten, auf der anderen Seite des Gartens.«
Nelly konnte es nicht fassen. Wie dämlich von ihr! Und von ihren
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