Schneebraut
nicht egal wäre, was irgendwelche Jungs in Siglufjörður sich über sie erzählten? Es gab nur einen Jungen, der ihr irgendetwas bedeutet hatte.
Ágúst.
Der schönste Junge von ganz Patreksfjörður.
Zumindest ihrer Meinung nach.
Sie waren seit ihrem siebten Lebensjahr zusammen – das zumindest hatten sie immer behauptet, nachdem ihre Beziehung im Teenageralter offiziell begonnen hatte. Und das entsprach wohl der Wahrheit, denn sie waren bereits seit der Grundschule unzertrennlich gewesen.
Ugla und Ágúst.
Die Namen waren unwiderruflich miteinander verknüpft.
Zumindest in Patreksfjörður.
Aber nicht hier, in Siglufjörður. Hier wusste keiner etwas davon.
Und so wollte sie es auch haben. Sie fühlte sich ganz wohl in der Rolle des geheimnisvollen Mädchens aus dem Westen. Das Mädchen, über das getratscht wurde. Ja – und dennoch –, es stimmte vielleicht nicht ganz, dass die Klatschgeschichten ihr gar nichts anhaben konnten. Eine Geschichte hatte sie schon verletzt. Irgendwie war das Gerücht aufgekommen, dass sie leicht zu haben sei. Sie verstand nicht, woher das kam.
Sie hatte von den Westfjorden wegziehen wollen – kurz nach der Begebenheit, die alles verändert hatte. Ihre Eltern nahmen das anfangs nicht hin. Sie hatte das Abitur noch nicht gemacht, war im zweitletzten Jahr im Gymnasium in Ísafjörður.
Es gelang ihr, die Prüfungen im Frühjahr noch zu absolvieren, als ihr ein Job in Siglufjörður angeboten wurde. In der Fischindustrie – das war genau die Art von Arbeit, in der sie sich auskannte. Und ihr war gesagt worden, dass vielleicht auch eine Teilzeitstelle im Büro frei werden würde. Das traf dann auch tatsächlich ein. Nun hatte sie ihre Arbeit in der Fischverarbeitung reduziert und jobbte noch halbtags im Büro. Hoffentlich hatte diese verfluchte Krise, die nun mit voller Wucht so richtig zuschlug, keinen Einfluss auf sie – sie brauchte den Job, konnte sich auf keinen Fall vorstellen, wieder zu ihren Eltern nach Patreksfjörður zurückzukehren.
Sie hatte anfangs eine kleine Wohnung im Souterrain gemietet. Dort herrschten eine angenehme Atmosphäre und ein guter Geist. Der Personalleiter hatte sie auf die Wohnung hingewiesen, als Notlösung, bis sie sich entschieden habe, wie lange sie denn in Siglufjörður bleiben wolle.
Sie hatte nicht sofort erkannt, wer der alte Herr war, der ihr die Wohnung gezeigt hatte. Es sah aus, als wenn er schon über achtzig sei, und sie erfuhr erst später, dass er bereits auf die neunzig zuging. Und sie kam natürlich schnell dahinter, dass es sich bei dem alten Herrn, dem alten Hrólfur, um den Schriftsteller Hrólfur Kristjánsson handelte. Sie konnte sich noch sehr gut an sein Buch
Nördlich der Heide
erinnern, das sie damals in der Schule gelesen hatte. Sie hatte sogar noch vor Augen, wie ihnen aufgetragen wurde, einen Roman aus dem Jahre 1941 zu lesen – zweifelsohne ein schon längst veralteter Roman, irgendwelche unerträgliche Landromantik, wie sie dachte. Doch da hatte sie sich getäuscht. Sie hatte das Buch an einem einzigen Abend verschlungen und bei sich gedacht, dass das Buch genauso gut eine Neuerscheinung hätte sein können, so gut wie es dem Zahn der Zeit standgehalten hatte. Das Buch hatte in der Klasse dennoch kaum für Aufsehen gesorgt, kaum mehr als andere Bücher, die auf der Leseliste standen. Doch es hatte etwas an sich, das Ugla faszinierte – zweifelsohne dasselbe, das auch die Ursache dafür war, dass das Buch in den fünfziger Jahren in rauen Mengen verkauft, es regelrecht verschlungen wurde und sich zudem auch im Ausland gut verkaufte. Der alte Herr musste ein Genie sein und war zu seiner Zeit bestimmt sehr berühmt gewesen.
Und an einem klaren, aber kalten Frühlingstag im Jahre 2004 hatte sie dem Autor persönlich gegenüber gestanden. Er hatte ein sympathisches Äußeres, ging leicht gebeugt, war aber in jungen Jahren zweifelsohne groß gewachsen und von stattlicher Statur gewesen. Er verfügte über ein kräftiges Stimmorgan und ein väterliches Auftreten, obwohl er selbst nie Kinder gehabt hatte.
Er wohnte in einem eleganten alten Haus am Hólavegur mit Aussicht über den Fjord. Das Haus war in einem guten Zustand, und an der Seite befand sich eine große Garage, wo sein alter, roter Benz stand. Die Souterrainwohnung war, so wie Ugla es verstanden hatte, hin und wieder vermietet worden, entweder an zugezogene Arbeitskräfte oder manchmal auch an Künstler, die in Ruhe und Frieden, von den Bergen
Weitere Kostenlose Bücher