Schneekuesse
die Stille ihrer Wohnung genießen.
Linda wird sich vielleicht gemütlich im Fernsehsessel räkeln und in aller Ruhe durch das Programm zappen, dazu ein Gläschen Wein. Und Pralinen, ja, unbedingt Pralinen! Die kann sie sich auch noch guten Gewissens gönnen, dünn wie die ist.
Netty zupft ärgerlich an ihrem langen Pullover, der ihre Hüftrolle kaschieren soll, die von den nächtlichen Kühlschranktouren und der mangelnden Zeit für Fitnesseinheiten zeugt.
Hannah könnte ein duftendes Schaumbad in der Wanne nehmen. Eingerahmt von Teelichtern. Dazu klassische Musik und eine Flasche Prosecco.
„Telefon für dich!“, Ulf holt Netty aus ihrer Traumwelt zurück und reicht ihr den Hörer. „Es ist Mutter. Sie möchte wissen, welches Menü du dir für morgen ausgedacht hast“, flüstert er.
RUMS! Morgen? Oh Gott, morgen ist Heiligabend! Sie hat die Gedanken an diesen Tag ganz verdrängt. Besser gesagt, sie hatte bisher nicht eine Sekunde Zeit, um überhaupt daran zu denken. Wie viele Verwandte hat Ulf gleich noch eingeladen? Blitzschnell überschlägt Netty alles im Kopf: Sie müsste die ganze Nacht und morgen den kompletten Vormittag bis zum Eintreffen der Gäste durchackern, um alles zu schaffen. Essen vorbereiten, Geschenke packen, den kümmerlichen Weihnachtsbaum vom Balkon schmücken, Zimmer dekorieren ... Einen Artikel für die Zeitung muss sie auch noch schreiben. Irgendein altes Lied fällt ihr ein, in dem es heißt, Weihnachten sei erst richtig gelungen, wenn Mutter platt unter dem Baum liegt.
„Wenn du morgen etwas essen willst, pack dir belegte Brote ein!“, schreit Netty in den Hörer.
Ulf reißt ihn ihr entsetzt aus der Hand, er zeigt ihr einen Vogel und säuselt ins Telefon: „Sie ist etwas überarbeitet. Sie ...“
Was er weiter sagt, um seine aufgebrachte Mutter zu besänftigen, hört Netty nicht mehr, weil sie ins Schlafzimmer verschwunden ist. „Etwas überarbeitet“ ist die Untertreibung des Jahrhunderts!
Sie reißt den Schrank auf und wirft wahllos einige Kleidungsstücke in ihre Reisetasche.
Die Geschenke für Tjark und Sören legt sie sichtbar mit einem Brief auf einen Stuhl. Das Mutterherz tut ihr bereits jetzt weh beim Gedanken, dass ihre beiden Söhne Heiligabend ohne sie verbringen müssen. Aber sie weiß, dass die beiden von ihren Geschenken so abgelenkt sein werden, dass sie sie kaum vermissen dürften.
Netty klemmt sich die Tasche unter den Arm und schaut noch einmal ins Kinderzimmer, wo Tjark und Sören gebannt vor dem Fernseher hocken. Sie streicht ihnen über die Köpfe und küsst sie. Ihre Augen feuchten sich bereits, also ist das angesagt, was Netty schon ihr ganzes Leben lang antreibt: Schnelligkeit.
Hannah sitzt nicht in der Badewanne, wie Netty sich das ausgemalt hat, sie steht ebenfalls vor ihrem Kleiderschrank und packt. Lustlos stopft sie Winterkleidung in einen kleinen Koffer.
Sie denkt an die Begegnung mit ihrer Nachbarin, eben auf der Treppe. Eine Frau, die so richtig geerdet ist, die weiß, wo sie hingehört. Sie ist Redakteurin bei der Zeitung, hat einen tollen Job.
Sie dagegen hängt an dieser blöden Uni herum, studiert mal das, mal jenes, ohne dass sie weiß, wo es beruflich hingehen soll. Die Medienbranche − das wäre was. Aber da muss man erst mal einen Einstieg finden, und den findet Hannah nicht. Sie ist absolut unzufrieden mit sich.
Und dann diese süßen, kleinen Jungs, wie sie die Hände ihrer Mutter vertrauensvoll umklammert haben, voller Vorfreude darauf, nach Hause zu kommen. Drinnen wartete sicher der Papa. Eine echte Familie! Ein Zuhause voller Wärme und Unabhängigkeit.
Letzteres ist Hannah enorm wichtig, weil sie so abhängig ist. Sie lebt von dem Geld, das ihre Eltern ihr monatlich überweisen, weil sie kein Einkommen hat. Studentenjobs sind rar, und den letzten Job hat Hannah durch häufiges Zuspätkommen vermasselt. Ihre Eltern unterstützen sie gerne, die drängen sie nicht, machen ihr keine Vorwürfe. Aber Hannah wurmt diese Abhängigkeit. Ach, eigentlich wurmt Hannah momentan alles. Und in der Uni ist sie natürlich auch gestern noch zu allem Überfluss Peer über den Weg gelaufen, der sie strahlend begrüßen wollte. Hannah hat rasch eine andere Richtung eingeschlagen.
Am Telefon hat sich ihre Mutter liebevoll erkundigt, ob sie nicht jemanden mitbringen möchte.
Hannah hat die Anspielung sofort verstanden. Ihre Eltern würden sich freuen, wenn ihre Tochter endlich einen festen Freund finden und sich
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