Schneekuesse
bitten, ob nicht jemand anders den Abendtermin übernehmen könnte. Sie haben das Thema schon x-mal durchgekaut. Die Kollegen können keine Rücksicht darauf nehmen, dass der Kindergarten nur bis 18 Uhr geöffnet ist. Jeder hat seine Arbeit zu erledigen.
Netty liebt ihre Arbeit als Redakteurin bei einer kleinen Lokalzeitung, aber gleichzeitig fühlt sie sich ständig zerrissen zwischen Kindern, Haushalt und Arbeit. Der Tag hat einfach nicht genügend Stunden.
Am Nachmittag hetzt sie also von Termin zu Termin. Nach der Denkmaleinweihung gerät sie in den Feierabendverkehr und steht im Stau. Mit quietschenden Reifen fährt sie um 18:25 Uhr beim Kindergarten vor.
Zwei weinende Kinder und eine maulende Erzieherin stehen vor dem Tor.
Sie lädt die Kinder ein und braust weiter. Der Verkehrsausschuss hat ja schon angefangen.
Es ist naturgemäß eine Superidee, mit zwei müden, hungrigen Kleinkindern eine politische Sitzung zu besuchen, zu der man auch noch zu spät kommt.
„Ich will endlich Nudeln mit Tomatensauce!“, plärrt Tjark, als Netty die Tür zum Sitzungssaal aufreißt.
Fünfunddreißig Köpfe drehen sich ruckartig zum Eingang, um die Neuankömmlinge anzustarren.
Dem aktuellen Redner bleibt sogar ein Moment lang der Mund offen stehen.
„Ähem, Entschuldigung!“, fühlt sich Netty verpflichtet zu sagen. Sie zerrt ihre beiden Kinder auf zwei Plätze im Hintergrund und holt rasch einen Notizblock heraus, um mitzuschreiben.
Währenddessen hat Sören einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche gezogen. Mit diesem ist er nun eifrig dabei, den Tisch zu bemalen. Als ihm dieses Kunstobjekt zu fade wird, robbt er weiter durch den Raum bis zur Garderobe. Helle Mäntel und Jacken sehen mit Kugelschreibermalereien gleich viel origineller aus. Das findet zumindest Sören. Er sitzt halb vergraben in einem Mantel- und Jackenberg und bekritzelt diese, was das Zeug hält.
„Mann, ist das öde hier!“, schimpft Tjark laut.
Wieder wenden sich die fünfunddreißig Köpfe ruckartig in seine Richtung.
„Psst!“, ermahnt Netty ihren Sohn.
„Ist doch wahr! Ich will endlich nach Hause!“
Einige Abgeordnete murren leise. „Dies ist kein Ort für kleine Kinder!“, tuscheln sie vorwurfsvoll.
Unruhig plätschert die Sitzung weiter vor sich hin, bis einer plötzlich laut aufschreit: „Was ist das denn? Das darf ja wohl nicht wahr sein!“, sein ausgestreckter Zeigefinger deutet auf Sören, der sich langsam aus dem Kleiderberg herausgeschält hat und nun damit beschäftigt ist, seine Malereien auf der Wand fortzusetzen.
„Oh, nein Sören!“ Netty läuft puterrot an. Mit einem Hechtsprung ist sie bei ihrem Jüngsten und reißt ihm den Stift aus der Hand. Eilig müht sie sich ab, mit ihrem mit Spucke angefeuchteten Taschentuch, für Ekelgefühle ist keine Zeit, die Wand abzuwischen.
„Bemühen Sie sich nicht! Schauen Sie sich lieber das an!“ Einer der Abgeordneten ist neben sie getreten und hält ihr mit eisigem Blick einen vollgekritzelten Trenchcoat vor die Nase.
Netty bekommt vor Schreck gar kein Wort heraus.
Dafür werden die übrigen Anwesenden nun umso munterer. „Mein neuer Mantel! Wie der jetzt aussieht!“, wettert eine Frau.
„Meine Jacke, die ist total hin. Das geht nicht mehr raus!“, schimpft eine andere.
Netty wünscht sich in diesem Moment so furchtbar doll ein Loch, in dem sie verschwinden kann. „Es tut mir sehr leid. Ich übernehme alle Reinigungskosten“, stammelt sie mit letzter Kraft.
Und so werden Adressen ausgetauscht, und Netty hat an diesem Abend weitaus mehr Geld verloren, als sie eingenommen hat.
Im Treppenhaus trifft sie Hannah, die ihr einen Brief überreicht, der versehentlich bei ihr abgegeben wurde.
Sehnsüchtig starrt Netty der jungen Studentin hinterher, die mit wehenden Haaren leichtfüßig in den vierten Stock hinaufläuft, während sie selbst glaubt, von einer Zentnerlast zu Boden gedrückt zu werden, obwohl es nur zwei gar nicht so schwere Jungs sind, die quengelnd an ihren Armen hängen.
In dem Moment hört sie oben eine Tür klappen und schlurfende Schritte. Die alte Schneider! Bestimmt will sie sie wieder in ein Gespräch über irgendwelche Nichtigkeiten verwickeln.
Rasch öffnet Netty ihre Wohnungstür und schiebt ihre Söhne sowie den Kindergartentaschenwust hindurch.
Einen Moment lang verharrt sie pustend im Flur. Vor ihrem geistigen Auge tauchen Bilder ihrer beiden Nachbarinnen, Hannah und Linda, auf, wie sie jede für sich
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