Schneekuesse
nicht dauernd durch haltlose Beziehungen hangeln würde. Hangeln ist der korrekte Ausdruck. Ich hangele mich schwankend durch mein ganzes Leben , überlegt Hannah wütend, während sie eine Bluse in den Koffer knallt.
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als Heiligabend bei den Eltern zu verbringen. Da sie einen günstigen Spartarif der Bahn ausnutzen möchte, fährt sie noch heute Abend los. Sie wird nachts ankommen, ihr Vater wird sie vom Bahnhof abholen.
Sie freut sich auf ihre Eltern, aber gleichzeitig ist das wieder die Bestätigung für ihre Unselbstständigkeit.
Der Verschluss des Koffers klemmt. Hannah setzt sich drauf und drückt ihn mit Gewalt zu. Ja, mit Gewalt! Mit Gewalt möchte sie ihr Leben ändern, ihm eine neue Wendung geben. Peer sollte eine bedeutende Rolle darin spielen. Er hat diese Rolle schnöde zurückgewiesen. Wie schon so viele Männer vor ihm. Hannah fühlt sich als Versagerin.
Kapitel 3
Als Netty aus dem Taxi steigt und zum Bahnsteig hinübergeht, schneit es. Dicke Flocken fallen vom Himmel. Sie sorgen dafür, dass die Stadt zur Ruhe kommt. Nichts entschleunigt so wie frischer Schnee. Alles wird leiser, die Luft wird reiner. Wenn man genau darauf achtet, erlebt man Momente, in denen die Welt still steht. Nur einen Wimpernschlag lang, aber immerhin!
Netty wickelt sich ihren Schal halb um den Kopf. Na, ist ja ein perfektes Timing von Petrus! Passend für Weihnachten. Früher hat Netty sich über Schnee gefreut. Sie hat ihre Zunge rausgestreckt und die Flocken darauf zergehen lassen. Sie hat sich jubelnd im Kreis gedreht, bis ihr schwindlig wurde. Sie hat ... Was ist von ihr übrig geblieben? Eine zynische Frau, die durch ihr Leben hetzt, den Blick immer auf die Uhr geheftet.
Es muss etwas passieren! , beschließt Netty.
Ulf hat nicht einmal gemerkt, dass sie sich aus der Wohnung geschlichen hat. Er war immer noch damit beschäftigt, seine aufgebrachte Mutter zu beschwichtigen, die offensichtlich über Nettys Frechheit fassungslos ist.
Soll er doch! , denkt Netty trotzig. Wenn das Frühstück morgen früh nicht auf dem Tisch steht, wird er endlich schnallen, was los ist.
Netty muss jetzt mal eine Weile allein sein, weil sie nachdenken will. Über sich selbst. Ausnahmsweise mal nicht über die anderen. Heiligabend ist der richtige Zeitpunkt für Selbstfindung.
Ihr Ziel ist das Ferienhaus der Familie, das nur eine halbe Zugstunde entfernt ist. Mit ihrem Smartphone hat Netty sich spontan ein Ticket gebucht.
Entschlossen läuft sie den weißgepuderten Bahnsteig entlang, der um diese späte Stunde beinahe leer ist. Aus den Augenwinkeln erkennt sie im trüben Licht der Bahnhofslampen nur noch zwei weitere vermummte Personen.
Sie lehnt sich gegen eine Plakatwand und beißt genüsslich in einen Schokoriegel. Schließlich hat sie ja bei all dem Theater heute noch gar nichts gegessen. Netty schließt die Augen und genießt die tröstende Süße.
Shit! Shit! , Hannah tritt wütend auf eine Schneeflocke zu ihren Füßen. Sie hat überhaupt keine Lust auf Heiligabend bei den Eltern. Ganz anders wäre es, wenn sie Erfolgsmeldungen hätte: einen netten Freund, bestandene Seminare, einen tollen Job. Aber nichts dergleichen. Wenn sie nicht lügen möchte, muss sie alle Fragen verneinen. Sie hat tatsächlich in diesem Semester nichts fertig bekommen. Eine verschenkte Zeit. Ich vertrödele mein Leben!
Erneut will sie aufstampfen, da fällt ihr Blick auf eine schattenhafte Gestalt, die sich aus dem schützenden Vordach des Bahnsteigs löst und am Rand vor den Bahngleisen stehen bleibt. Sie schwankt.
Sie wird doch nicht ... Hannah macht erschrocken einige Schritte nach vorne.
Die Gestalt steht so dicht am Rand, dass sie jeden Moment ausrutschen und auf die Bahngleise stürzen kann.
Ist die nicht bei Sinnen? An den Umrissen kann Hannah jetzt beim Näherkommen erkennen, dass es sich um eine Frau handelt. Wenn auch eine sehr dünne Frau mit beinahe knabenhaften Konturen.
Was soll Hannah tun? Wenn sie die Lebensmüde anspricht, rutscht die vielleicht vor Schreck aus und landet erst recht auf den Bahngleisen. Es dauert gar nicht mehr lange, bis der Zug einfährt. Das wäre eine Katastrophe.
Also schleicht Hannah die letzten Meter beinahe, die sie noch von der Frau trennen. Dann greift sie blitzschnell nach dem Arm der Person und zieht sie zurück.
„He!“, stößt die Frau aus. Sie atmet schwer.
Das tut Hannah auch. Sie hat ganz weiche Knie, weiß nicht,
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