Schneesterben
ins Ärztezimmer zur Morgenbesprechung.
Es war nicht viel los gewesen an diesem Tag, die zweijährige Simra wurde zur Nachuntersuchung erwartet und die Mutter von Marie wollte vor der Operation beruhigt werden. Während der Visite verströmten alle gute Laune, sogar Zorro (der normalerweise treffende Spitzname von Assistenzarzt Zorko Kos) – bis, ja bis die kleine Marie bei Reglers Anblick zu weinen begann und ihre Mutter schützend den Arm um das Kind legte.
In dem Moment war es wieder dagewesen, das Ziehen in der Magengrube. Und als er Schwester Ayses Gesicht sah, die es fertigbrachte, schuldbewußt und vorwurfsvoll zugleich zu gucken, so als wollte sie sagen: Siehst du! Alle Kinder haben Angst vor dir! – da wußte er, daß nicht nur er und Berti Ferber an ihm zweifelten. Seine Abteilung stand nicht hinter ihm. Jedenfalls nicht alle.
Bei einem völlig harmlosen Anlaß, als einem Vierjährigen der Verband entfernt werden sollte, explodierte die Situation. Ayse hielt ihm das Skalpell hin, mit dem er einen verkrusteten Teil der Binde abheben wollte, wie immer so, daß er blind danach greifen konnte. Aber irgend etwas mußte sie abgelenkt haben, in der letzten Sekunde zog sie die Hand zurück. Er faßte in die scharfe Schneide. Und obwohl sie sich bemühte, das Blut zu stillen und sich fast untertänigst entschuldigte, war ihm endlich der Kragen geplatzt.
»Was ist hier eigentlich los? Funktioniert diese Abteilung noch, oder entwerft ihr gerade die nächste Zeitungsschlagzeile?« Man mußte ihn bis zu Abteilung III am anderen Ende des Flurs gehört haben.
Zorko klammerte den Schnitt in die empfindlichen Kuppen von Zeige und Mittelfinger der rechten Hand.
Thomas sah ihn vor sich, den rötlichen Schopf des Assistenzarztes, durch den die Kopfhaut schimmerte.
»Wird wohl nichts mit der OP morgen«, hatte er zu ihm gesagt. Ein Fünfjähriger, Emre, der Liebling der ganzen Abteilung, sollte am Darm operiert werden. Eine nicht sehr schwierige, aber auch nicht sehr einfache Sache.
»Sieht nicht gut aus«, murmelte Zorko, ohne aufzusehen.
Thomas seufzte. »Was geht hier vor, Zorro, alter Kumpel?« fragte er endlich.
»Die Nerven liegen ein bißchen blank, sonst ist nichts.« Zorko räusperte sich, bevor er weitersprach.
»Nach dem ersten Medienaufschrei wird sich das schon legen. Und die Untersuchung – was können sie dir schon vorwerfen?«
Ja, was können sie mir vorwerfen, hatte er sich noch in aller Unschuld gefragt. Niemand hatte wissen können, daß der Junge so empfindlich reagieren würde. Und seine eigenen Zweifel gingen keinen Untersuchungsausschuß etwas an.
»Weißt du, Zorro…« Ob der andere verstand, was ihn quälte? Welche Selbstzweifel, welche Gewissensbisse? Thomas hatte aufgesehen, direkt in die Augen Zorkos. Und erst nicht glauben können, was er in ihnen sah: Schadenfreude. Dann senkte der andere den Blick.
So war das also.
»Ich geh wohl besser.« Er hatte gehofft, daß der Kollege das Zittern in seiner Stimme nicht hörte.
»Erhol dich«, murmelte Zorro. »Ich komm’ schon klar.«
»Da bin ich mir sicher.« Thomas ging in sein Zimmer.
Sollte er Krista anrufen? Er hob die Zeitung vom Boden auf und warf sie in den Papierkorb.
Wozu.
Dann zog er sich um und verließ die Abteilung – seine Abteilung. Es hatte, glaubte er heute, sich damals schon irgendwie endgültig angefühlt.
Das Auto stand auf dem Parkplatz, unter einer weißen Schneehaube. Er fegte mit dem Stadtplan von Frankfurt die Scheiben frei. Es schneite sanft und leicht, wie nebenbei. Es schneite beharrlich. Im nachhinein kam es ihm vor, als ob es über Wochen und Monate, als ob es immer geschneit hätte.
Thomas verschränkte die Arme vor der Brust. Ihm war kalt.
»Wenn Sie das Krankenhaus um elf Uhr verlassen haben, dann hätten Sie doch spätestens um elf Uhr dreißig zu Hause gewesen sein müssen«, hatte der junge Polizist gesagt. Gümüs, Kriminalkommissar Atilla Gümüs.
»Wie Gemüse, nur mit zwei ü und ohne e.« Thomas hatte sich bemüht, über den Witz zu lächeln. Der zweite Beamte, ein wesentlich älterer Mann, groß, schlank, fast dürr, mit Boxernase und zerknittertem Gesicht, sagte gar nichts, aber schrieb alles mit.
»Sie hätten also…«
Hätte. Hätte. Der erste Stau hielt ihn schon am Stadtausgang fest. Ein Kleintransporter war bei einem Überholmanöver auf der Gegenfahrbahn gelandet und blockierte die Spur. Vor der Abzweigung zum Schloß lag ein BMW im Graben – hinter einem havarierten VW-Bus.
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