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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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recht nicht, daß er dem Bier und dem ersten Glas Whisky noch eins hinterhergeschickt und dann vergeblich nach ihr gefahndet hatte. Das Handy war ausgeschaltet. Und die paar gemeinsamen Freunde hatten auch nichts von ihr gehört.
    Wann er sich beruhigt hatte? Keine Ahnung, Herr Kommissar. Irgendwann jedenfalls hatte er sich die wasserfesten Stiefel über die Jeans gezogen und die Lammfelljacke aus dem Schrank geholt. Es schneite wieder – oder immer noch –, als er sich ins Auto setzte. Naiv hatte er angenommen, man habe geräumt oder gestreut, nicht nur auf den Autobahnen, auch auf den Nebenstrecken in die Berge. Dann fuhr er los.
    Im Auto endlich hatte er sich umhüllt gefühlt von Wärme und Vertrautheit. Das Licht von Armaturenbrett und Radiokonsole erhellte das Wageninnere wie ein verglühendes Kaminfeuer. Und es roch nach Krista. Normalerweise fuhr sie den Jeep und er das Kabrio, aber wegen des Schnees hatten sie die Autos getauscht – er mußte täglich zur Arbeit, und bei diesem Wetter war der Jeep sicherer. Er schaltete den CD-Spieler an. Eric Satie. Das war ihre Musik. Hastig schaltete er um auf das Radio. Nur nicht sentimental werden. Die Nachrichten – von Schneekatastrophen war zu hören, von Staus auf den Autobahnen im Süden und Südwesten, von Erfrorenen in Polen und Rußland, von einer Hitzewelle mit Buschbränden in Australien –, die Nachrichten ließen ihn ungerührt. Doch dann, irgendwann, spielten sie ein Lied, ein uraltes Lied, das er als Kind geliebt hatte und das damals schon ein Oldie war.
    God only knows.
    God only knows what I’d be without you.
    Er preßte sich in den Autositz und sehnte sich nach Krista.
    Vielleicht hatte es am Schneetreiben gelegen oder an dem langsamen Tempo, zu dem ihn der Verkehr auf der Bundesstraße zwang. Oder am Schmerzmittel, daß er zu Hause noch eingenommen hatte. Obendrauf auf Bier und Whisky. Jedenfalls verpaßte er die Abfahrt nach Klein-Roda. Und fast hätte er im dichten Schneetreiben auch noch die nächste Abzweigung übersehen.
    Den Weg über Ulrichshain kannte er nicht. Alles war ihm fremd hier. Und die Schneeflocken standen wie eine graue Wand vor der Windschutzscheibe. Die schmale Straße, die durch den nächsten Ort führte, war von meterhohen Schneewällen eingerahmt, man fuhr wie durch einen Tunnel. Nur wenige Lichter brannten vor den Häusern, man sah sie kaum im Schneegestöber. Am Ortsausgang überlegte er für ein paar Sekunden, ob er an der Gabelung rechts oder links fahren sollte. Er fuhr rechts.
    Die Straße schraubte sich über Serpentinen hoch und tauchte in einen Tannenwald ein. Kaum war er heraus aus dem Wald, legten sich lichtgraue Schwaden über die Landschaft. Er fuhr im dritten Gang weiter, voller Angst, von der Straße abzukommen. Und plötzlich war die Sicht wieder frei, tat sich eine weite Mondlandschaft aus sanft geschwungenen weißen Matten auf. Scheinbar endlos führte der Weg hoch, wieder in einen dichten, tief verschneiten Nadelwald. Er wußte, daß er sich verfahren hatte. Er mußte umkehren.
    Über der Straße lag bereits wieder eine unberührte weiße Decke. Das Schneetreiben hatte nachgelassen, dafür war die Dämmerung in Nacht übergegangen. Seine Augen brannten, als er in Klein-Roda einfuhr.
    Ganz kurz nur verloren die Räder des Jeeps den Kontakt mit der Straße, und für einen Moment fühlte er sich in einem Schwebezustand zwischen Himmel und Erde – als ob jemand zögerte, die Würfel fallenzulassen, mit denen über sein Leben entschieden wurde. Dann stampfte der schwere Wagen die Straße hoch bis zum Dorfende, an dem das Haus in einer Senke lag.
    Er stellte das Auto hinter eine Schneewehe. Das ganze Dorf war finster, niemand war zu sehen. Immerhin hatte es aufgehört zu schneien. Der Schnee auf dem Weg zum Hauseingang war unberührt, er sank bei jedem Schritt tief ein. Die Tür war nicht verschlossen.
    »Krista?« Er mußte sich ungeduldig angehört haben.
    Eifersüchtig. Er war eifersüchtig, er hatte es sich endlich eingestanden; eifersüchtig auf das Haus, gegen dessen Kauf er sich so lange gesträubt hatte. Es zog ihn nicht aufs Land. Erst recht nicht in diese Gegend. Insgesamt hatte er höchstens ein, zwei Wochen mit ihr verbracht, hier, wo sie sich zu Hause zu fühlen schien.
    Und wo gehörte er hin?
    Thomas sah Atilla Gümüs’ fragendes Gesicht vor sich. Nirgendwo, wenn Sie mich fragen, Herr Kommissar.
    Nirgendwo.
    Er hatte den Lichtschalter betätigt. Es blieb dunkel. Er erinnerte sich an seine

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