Schneestille
Genauso, wie es bei Jake ausgesehen hatte.
»Das geht vorbei. Sie müssen sich ausruhen. Sie haben viel, worüber Sie nachdenken müssen.« Die Ärztin stand auf. »Hören Sie, draußen wartet ein Mann. Er hat Sie gefunden. Er hat Sie aus dem Schnee ausgegraben. Er würde gerne mit Ihnen sprechen. Er wartet draußen vor der Tür, seit Sie eingeliefert wurden. Aber wenn Ihnen das zu viel ist, dann schicke ich ihn weg. Er kann auch später noch mal wiederkommen.«
»Nein, bitte, lassen Sie ihn rein.«
Die Ärztin nickte der Krankenschwester zu, die den Raum verließ. Ein paar Minuten später kam sie mit einem älteren Herrn zurück, dessen ledriges, gebräuntes Gesicht von Falten durchzogen war. Die grauen Haare waren kurz geschoren. Er trug einen erstaunlich dünnen, gestutzten Schnurrbart. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, doch seine Augen schimmerten vor Mitgefühl für ihren Kummer, wie Sonnenstrahlen auf Raureif.
Ganz selbstverständlich breitete Zoe die Arme aus, um dem Fremden zu danken, der ihr das Leben gerettet hatte. Die Ärztin trat beiseite, sodass er sich über das Bett beugen und sich von ihr umarmen lassen konnte. »Vous bénisse! Vous bénisse!« , sagte er.
Er roch durchdringend nach Tabak.
»Danke, danke, danke.«
Er trat einen Schritt zurück und redete auf Französisch mit ihr, wobei es ihn nicht zu stören schien, dass Zoe kaum ein Wort verstand. Die Ärztin übersetzte für sie. »Er sagt, Sie sind die Dritte, die er aus dem Schnee ausgegraben hat, aber bei Ihnen hatte er am wenigsten Hoffnung.«
»Können Sie ihn fragen, wie lange ich unter dem Schnee begraben war?«
»Er meint, zwanzig Minuten vielleicht, womöglich auch länger. Ihre Reiseleiterin sagte, Sie seien früh aufgestanden. Sie hat dem Rettungsteam Ihre Telefonnummer gegeben. Es war ganz in der Nähe und sehr schnell zur Stelle. Aber sie haben an der falschen Stelle gesucht. Er sagt, er habe auf den Schnee gehört.«
»Gehört?«
»Das hat er gesagt. Er meint, seine Kollegen haben ihre Thermosensoren benutzt, aber die lagen falsch. Er hat an einer anderen Stelle gesucht und Sie gefunden. Er meint, die Bergrettung hat sich Ihre Handynummer geben lassen und versucht Sie anzurufen. Er hat das Handy durch den Schnee klingeln gehört. Aber es hat immer wieder aufgehört, und er hat gebetet, es möge weiter klingeln.«
»Laissez sonner.«
»Oui. Laissez sonner« , sagte der alte Mann.
Sie erkannte seine Stimme. Aber es konnte doch nicht sein, dass sie, unter dem Schnee begraben, ans Telefon gegangen war.
Dann reichte er ihr eine Karte. Sie war nass und schon fast dabei, sich aufzulösen, und sie hatte ungefähr die Größe einer großen Spielkarte. Auf der einen Seite war das Bild eines Weihnachtsbaums, der mit Geschenken und Mitbringseln geschmückt war. Die Karte hatte sie schon einmal gesehen. Aber hier stand nichts unter dem Bild.
»Was ist das?«
Der Mann sagte etwas, und die Ärztin übersetzte. »Er sagt, das haben Sie in der geschlossenen Hand gehalten.«
Der Mann sagte wieder etwas zu der Ärztin, rieb sich die großen Ohren und lächelte Zoe an. »Er sagt, er hatte schon immer sehr gute Ohren. Seine Freunde haben ihn immer damit aufgezogen. Und er sagt, er hat winzige Bewegungen im Schnee gehört. Ein klitzekleines Kratzen. Und da wusste er, dass Sie da sind, und er hat die anderen gerufen. Und sie sind alle gekommen.«
»Was hat er …?«, versuchte sie.
»Er traut den neuen Methoden nicht. Er sagt, er hat Ihnen einen Cognac eingeflößt, als er sie gefunden hat, obwohl das heutzutage verboten ist.«
»Ich erinnere mich an den Geschmack von Cognac.«
Die Ärztin übersetzte, und die Augenbrauen des alten Mannes tanzten auf und ab. Er redete sehr aufgeregt. Dann wurde der Mann ganz still und ernst und wandte sich an die Ärztin.
»Nun sagt er, er möchte Sie nicht anschauen, denn er muss sich dafür entschuldigen, dass er Ihren Begleiter nicht gefunden hat.«
Trotzdem drehte der alte Mann sich um und nickte ihr zu.
»Bitte sagen Sie ihm, dass er noch jemanden gerettet hat. Wirklich.«
Die Ärztin erklärte dem alten Mann etwas. Er trat an ihr Bett, streckte vorsichtig seine wettergegerbte Hand aus und legte sie auf das Baumwolllaken über ihrem Bauch. Dort ließ er sie einen Moment liegen, und wieder roch es durchdringend nach Tabak.
»Er freut sich sehr«, sagte die Ärztin. »Er ist der Sargtischler des Ortes, und er sagt, er freut sich, ausnahmsweise einmal etwas für die Lebenden tun zu
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