Schloß der verlorenen Seelen
1. Kapitel
Es war noch früh am Morgen, als Camilla Corman erwachte. Ihr Blick glitt zur Uhr. Sie hatte noch etwas Zeit. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen, dachte über ihr Leben nach. Sie war fünfundzwanzig, und es wurde ihr klar, daß es nicht ewig so weitergehen konnte. Immerhin wünschte sie sich eine Familie, vor allen Dingen Kinder. Andererseits hatte sie bisher noch keinen Mann kennengelernt, der ihr so viel bedeutet hätte, daß sie bereit gewesen wäre, den Rest ihres Lebens an seiner Seite zu verbringen.
Die junge Frau arbeitete als Lehrerin an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder. Sie liebte ihren Beruf. Es machte ihr Freude, in den Kindern, deren Gesichter von dem Leid gezeichnet waren, das man ihnen angetan hatte, wieder Freude zu wecken. Sie war mit ganzem Herzen Lehrerin. Schon als junges Mädchen hatte sie den Wunsch gehabt, eines Tages mit Kindern zu arbeiten.
Jetzt waren Ferien. Sie hatten vor drei Tagen begonnen. Camilla plante, einen Teil dieser Ferien in Cornwall zu verbringen. Zwar hatten ihre entfernten Verwandten, der Earl of Danemore und seine Familie sie wieder einmal auf ihren Besitz an der schottischen Grenze eingeladen, aber die junge Frau war sich nicht sicher, ob sie diese Einladung annehmen sollte. Sie kannte die Danemores nicht - man schrieb sich nur zu den Feiertagen. So war es schon immer gewesen. Nicht einmal ihre Mutter, die Tochter einer Großtante des Earl, hatte die Verwandten jemals besucht.
Ob ich ihnen schreiben sollte, daß ich in den Weihnachtsferien komme, überlegte Camilla. Sie verspürte plötzlich sogar den heftigen Wunsch, ihre Verwandten kennenzulernen. Ihre Mutter meinte zwar immer, es sei nicht mehr als eine freundliche Geste, daß hin und wieder Einladungen ausgesprochen wurden, aber das mußte nicht stimmen.
Die Lehrerin seufzte auf. Ihr Vater war kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag gestorben. Schon ein Jahr später hatte ihre Mutter erneut geheiratet. Ihr Mann, Steven Randall, arbeitete in Cambridge. Camilla mochte ihren Stiefvater nicht, aber sie war ehrlich genug sich einzugestehen, daß dieser daran keine Schuld trug. Obwohl sie wußte, daß es sehr egoistisch war, konnte sie Steven Randall nicht verzeihen, daß er ihre Mutter geheiratet hatte. Immerhin wußte sie, daß er ihre Mutter schon immer verehrt hatte, und sie hegte den Verdacht, daß ihm der Tod ihres Vaters sehr gelegen gekommen war. Doch das tat der Zuneigung, die sie für ihre kleine Halbschwester empfand, keinen Abbruch. Laura, die erst vor kurzem sieben geworden war, liebte sie von ganzem Herzen.
Camilla stand auf, duschte und zog sich an. Als sie zur Treppe ging, hörte sie ihre Mutter in der Küche hantieren. Eilig stieg sie hinunter. “Guten Morgen, Mom”, grüßte sie. “Was tust du denn schon hier unten?”
“Ich konnte nicht länger schlafen, Camilla”, erwiderte Nancy Randall. “Außerdem hast du es bestimmt gerne, wenn dir einmal das Frühstück serviert wird. Sehr oft wird das nicht geschehen.”
“Das allerdings nicht.” Camilla nahm Tassen und Teller aus dem Schrank. “Schläft Laura noch?”
“Ja, ich glaube.”
“Ich bin so froh, daß ihr vor eurer Reise nach Frankreich noch zwei Tage bei mir verbringt”, meinte Camilla. “Ich sehe euch viel zu wenig.”
“Du müßtest uns nur öfter in Cambridge besuchen”, bemerkte Mrs. Randall. Sie sah ihre Tochter an. “Bitte, Camilla, versuch doch wenigstens, meinen Mann zu akzeptieren. Ich liebe Steven.”
“Und nur darauf kommt es an”, antwortete die junge Frau.
“Du könntest uns nach Frankreich begleiten. Steven hätte bestimmt nichts dagegen.”
“Bitte, mach dir doch nichts vor, Mom. Steven weiß genau, daß ich ihn nicht mag. Davon abgesehen, daß ich mich auf Cornwall freue, würde ich euch nur die Ferien verderben.” Die junge Frau wandte sich der Tür zu. “Ich schau mal nach Laura. Vielleicht ist sie inzwischen wach.”
Schweigend widmete sich Mrs. Randall wieder der Zubereitung des Frühstücks.
Camilla huschte die Treppe hinauf. Ihre kleine, sehr verwinkelte Wohnung erstreckte sich über zwei Stockwerke in einem Londoner Mietshaus. Sie liebte diese Räume und hatte sie während der vergangenen Jahre mit viel Sorgfalt eingerichtet. Es erschien ihr unmöglich, diese Wohnung jemals aufzugeben.
Vorsichtig öffnete die Lehrerin die Tür des Gästezimmers. Ihre Mutter hatte die Vorhänge bereits aufgezogen. Laura schlief noch. Ihre blonden Locken lagen wie ein Schleier
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