Schneesturm und Mandelduft
Blick wechselten. Es dauerte nur eine Millisekunde, doch Martin konnte sowohl Hass als auch Furcht darin erkennen.
»Was hast du denn gehört, Papa?«, fragte Harald mit einem heiteren, aber nur angedeuteten Lächeln. Nur seine Hände verrieten seine wahren Gefühle. Während er sprach, zerriss er seine Serviette in winzige Stücke.
»Alles läuft wie immer. Business as usual , weißt du. Wie zu deiner Zeit.«
»Meine Zeit«, fauchte Ruben. »Du weißt haargenau, dass ›meine Zeit‹ gerade mal zwei Jahre zurückliegt. Du tust geradezu so, als sei es hundert Jahre her, dass ich am Ruder stand. Und hätte ich nicht diese …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… Gesundheitsprobleme bekommen, würde ich noch heute dort stehen. Aber ich habe weiterhin meine Informanten im Unternehmen. Und ich habe von Dingen gehört, die sehr alarmierend sind.« Er hob warnend den Zeigefinger und blickte zwischen Harald und Gustav hin und her.
Nach einem auffordernden Seitenblick von Harald räusperte sich Gustav und ergriff das Wort. »Wie Harald schon sagte, ist alles in bester Ordnung. Ich verstehe nicht, was du gehört haben könntest …«
Ruben schnaubte erneut. Spuckefetzen flogen durch die Luft, als er aufbrausend sagte:
»Ihr seid alle miteinander ein elender Haufen! Euer ganzes Leben lang habt ihr wie Zecken an mir geklebt, auf meine Kosten gelebt und nur darauf gewartet, dass euch alles zufällt! Und wider besseren Wissens habe ich euch unzählige Chancen geboten, immer wieder Geld in eure Unternehmen investiert, und euch beiden«, er schaute in Richtung seiner Söhne, »habe ich die Leitung der Firma übertragen, weil ich sie so gern im Familienbesitz behalten wollte. Aber jeder Einzelne von euch hat mich enttäuscht! Was ich euch gegeben habe, habt ihr verprasst, aus dem Fenster geworfen und vergeudet. Und jetzt sage ich, es ist Schluss, es reicht!«
Ruben schlug so hart mit der Faust auf den Tisch, dass alle zusammenzuckten. Instinktiv wollte Martin nur fliehen. Aber zugleich war es wie bei einem Verkehrsunfall, an dem man vorbeifuhr. Man konnte einfach nicht wegschauen.
»Ich werde euch Pack enterben! Das Testament ist vollständig verfasst, unterschrieben und notariell beglaubigt, und ihr werdet nur das bekommen, was euch gesetzlich zusteht. Einige sorgfältig ausgewählte Wohltätigkeitsorganisationen werden ihrem guten Stern danken, wenn ich eines Tages abkratze, denn sie erben den Rest!«
Die ganze Familie starrte den Mann im Rollstuhl an. Es war, als habe jemand auf einen Knopf gedrückt und einen Film angehalten, denn alle saßen da wie erstarrt. Kein Laut war im Raum zu hören, nur Rubens keuchender Atem und der Sturm, der jetzt wie ein wildes Tier vor dem Fenster wütete.
Der Wutausbruch musste Ruben durstig gemacht haben, denn er hob mit zittriger Hand sein Wasserglas und trank es in einem Zug aus. Noch immer sagte keiner etwas, und niemand rührte sich.
Ruben stellte das Glas ab, und es sah aus, als sacke er langsam in sich zusammen wie ein Ball, der Luft verliert.
Ein leichtes Zucken im Gesicht des alten Mannes war das erste Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmte, es folgten leichte Krämpfe in seiner rechten Gesichtshälfte, die sich nach links fortpflanzten. Danach fing der ganze Körper an zu zucken. Zunächst fast unmerklich, bald aber folgten immer heftigere Spasmen. Ein krächzender Laut drang aus seiner Kehle, und der dürre kleine Körper bäumte sich auf. Erst jetzt reagierten die anderen.
»Großvater!«, rief Lisette und stürzte zu ihm.
Auch Bernard sprang auf, doch beide blieben ratlos vor Ruben stehen und wussten nicht, was tun.
Bernard versuchte, die mageren Schultern festzuhalten, aber die Zuckungen waren zu stark, er schaffte es nicht.
»Er stirbt, er stirbt!«, schrie Vivi und zog so heftig an ihrer Perlenkette, dass die Schnur riss und die Perlen sich über den Boden ergossen.
»So tut doch was!«, rief Britten und blickte sich ratlos um.
Martin rannte zu Ruben, aber als er bei dem alten Mann angelangt war, hörten die Spasmen abrupt auf, und Rubens Kopf kippte mit einem dumpfen Schlag auf den Teller. Martin tastete mit Daumen und Zeigefinger an Rubens dünnem Handgelenk nach dem Puls, musste aber feststellen, dass der nicht zu fühlen war:
»Es tut mir leid. Er ist tot.«
Vivi stieß noch einen Schrei aus und tastete nach ihrer nicht mehr vorhandenen Kette.
Börje und seine Frau kamen aus der Küche gelaufen, und Harald rief ihnen zu:
»Rufen Sie einen
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