Schrei Aus Der Ferne
sie auf, aber nicht zu streng, geben Sie ihr Raum und genug Zeit, um sich zu orientieren; lassen Sie sie über die Ereignisse reden, wenn sie möchte, aber erzwingen Sie es nicht, drängen Sie sie nicht. Es gibt Menschen, die ihr helfen können, wenn nötig, Fachleute, Therapeuten, die sich auf Kinder, Jugendliche, Traumata spezialisieren.
Was keiner von ihnen sagte, nicht zu dem Zeitpunkt, nicht in der Öffentlichkeit: Es hätte schlimmer sein können, viel schlimmer. Alle wussten das, sagten Dank dafür, so gut sie konnten, beteten, wenn ihnen der Sinn danach stand.
»Simon«, hatte Ruth vorsichtig gefragt. »Er hat dich doch nicht angefasst oder so etwas?«
»Nein, Mum.« Ein kurzes geringschätziges Kopfschütteln. »Mach dir keine Sorgen.«
Sie hatte nicht wieder gefragt.
Für den Augenblick begnügte sich Ruth damit, ihrer Tochter zuzusehen, wie sie durchs Zimmer lief, an einer Haarsträhne zog, Däumchen drehte, grundlos lächelte, die Stirn runzelte. Bislang hatte Beatrice sehr wenig über dieTage ihrer Gefangenschaft gesagt, nur, wie langweilig es gewesen sei.
»Mum, ich seh ein bisschen fern, ja?«
»Gut, ja, wenn du willst.«
Ruth wollte etwas anderes. Sie wollte sie in den Arm nehmen und festhalten, bis es wehtat. Stattdessen ging sie zum Fenster, setzte sich hin und nahm eine Zeitschrift in die Hand. Stück für Stück, Schritt um Schritt: lass ihr Zeit.
Simon Pierce war unterwürfig, still, reuevoll. Unrasiert, ungekämmt saß er Will und Jim Straley gegenüber, rang die Hände im Schoß, unfähig, einem der beiden Kriminalbeamten in die Augen zu sehen. Bei der Vernehmung zeigte er keine Spur der Selbstsicherheit, die er sonst gelegentlich zur Schau gestellt hatte.
Seine Anwältin hatte ein frisches Gesicht und war besonders eifrig, konnte sie doch stolz darauf sein, einen so vielbeachteten Fall an Land gezogen zu haben. Sie war darauf bedacht, einzugreifen, auf Verfahrens- und Rechtsfragen zu verweisen und ihrem Mandanten allen Schutz zu gewähren, den er benötigte. Sie trug ihren besten Hosenanzug, schlicht, aber trotzdem nicht zu maskulin, im Haar zwei Silberspangen, diskretes Augen-Make-up, rote Lippen.
Niemand im Raum schenkte ihr mehr Beachtung als unbedingt nötig.
»Ich habe ihr nicht wehgetan«, sagte Pierce, »nicht ein einziges Mal. Das wissen Sie doch, oder? Das würde ich nie tun. So was mache ich nicht. So bin ich nicht. Na ja, das wissen Sie, das können Sie sehen. All die Arbeit, die ich mir gemacht habe, um zu helfen. Nicht mehr so viel, seit ich hierher gezogen bin, aber vorher. All diese Gruppen. ›Little Angels‹. Und andere. Die brauchen immer Leute, die bereit sind zu reden. Ihre Erfahrungen auszutauschen, verstehen Sie? Leute, dieBescheid wissen, die einen solchen Verlust erlitten haben. Die Kinder verloren und es durchgemacht haben. Die es … egal, wie schlimm … wie schlimm es war … überstanden haben.«
»Und das haben Sie?«, fragte Will ruhig. »Sie haben es überstanden?«
»Ja. Ja. Nach der Sache mit Heather. Das habe ich. Ich war stark. Ruth war es, die nicht ertragen konnte, was passiert war, die nicht darüber reden wollte, und deshalb blieb alles an mir hängen. Alles zu regeln, verstehen Sie? Da war nicht nur die Beerdigung, die Kirche, die Vorbereitungen, nein, danach, hinterher im Haus, dieses verdammte Haus, und wir zwei waren ganz allein, und sie wollte nicht …« Ein Schluchzen brach aus ihm hervor, und er hielt sich an der Tischkante fest. »Sie wollte nicht … Es war, als würde sie mich nicht mehr kennen. Sie … sie hat sich in sich selbst zurückgezogen, hat mich von allem ausgeschlossen, als wäre Heather nie meine Tochter gewesen, als hätte sie nie etwas mit mir zu tun gehabt. Es war ihr Verlust, Ruths Verlust, und nicht meiner, und da habe ich Hilfe gesucht. Habe anderswo Hilfe gesucht. Auch in der Arbeit natürlich. Ich habe versucht, mich in der Arbeit zu verlieren, aber dann – ich weiß nicht –, dann hat sich alles irgendwie aufgelöst …«
Er sah Will hilflos an.
»Ich dachte … ich habe wirklich gedacht: Simon, du bist nahe dran zusammenzubrechen, du musst etwas tun. Tu etwas. Und an diesem Punkt habe ich versucht, mit Ruth zu reden, aber es war zu spät, sie sagte, es sei zu spät, sie würde mich verlassen, weggehen, sie wollte die Scheidung. Gut, in Ordnung, sagte ich. Okay. Das konnte ich verstehen. Das konnte ich nachvollziehen. Aber nachdem sie weggezogen war, fing sie eine
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