Paravion
Hafid Bouazza
Paravion
Roman
Aus dem Niederländischen
von Ira Wilhelm
Klett Cotta
Klett-Cotta
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Paravion«
im Verlag Prometheus, Amsterdam.
Copyright © Hafid Bouazza 2002
Für die deutsche Ausgabe
© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 2005
Fotomechanische Wiedergabe nur mit
Genehmigung des Verlags
Printed in Germany
Schutzumschlag: Philippa Walz, Stuttgart Unter Verwendung eines Fotos von akg-images/Erich Lessing Gebunden von Clausen & Bosse, Leck
ISBN 3-608-93734-X
Von ihrem Dorf in Nordafrika fliegt eine Gruppe von Auswanderern auf leistungsschwachen
fliegenden Teppichen Richtung Norden. Wenig später landen sie auf dem harten Boden der Realität als gerade noch geduldete Einwanderer. Doch während die Männer im lüsternen »PARAVION« –
so steht es auf den Briefen, die sie nach Hause schicken – von ihrer vermeintlich sittenstrengen Heimat träumen, geht dort das Leben ohne sie weiter: Eine neue Generation wird gezeugt und wächst heran. Auch sie wird irgendwann das Fernweh erfassen…
Hafid Bouazza hat mit Witz und Phantasie einen überbordenden, die Kulturen übergreifenden Kosmos geschaffen: »Wer wissen will, wie man Träumerei und Verlangen in reinste Spracherotik bannt, sollte bei Bouazza in die Lehre gehen!« De Groene Amsterdamer
An Fatima
I
1
Hör’ zu.
Was wie eine Mahnung zur Stille klingt – scht! –, ist in Wahrheit der Wind in den Bäumen, ein Flüstern, mit Zungen in den Blättern gewispert. Und das Gezwitscher unsichtbarer Vögel, warum sollte das kein Klatsch und Tratsch sein?
Eigentlich wollte er heimlich abreisen. Baba Baluk und seine Frau verschwiegen die bevorstehende Reise, aus Angst vor übler Nachrede und Unheil – dem bösen Auge –, aber umsonst.
Wer nur hatte ihr Geflüster in gardinenbehängter Nacht aufgefangen? Wer weiß schon, welche unsichtbaren geflügelten Horcher schwere Sommerfinsternisse bewohnen?
Seine Frau hatte am Nachthimmel einen Lichtschein gesehen, er flackerte auf und verschwand. Höchstwahrscheinlich Feuerfliegen, doch sie war überzeugt, es sei das Feuer, um das sich jede Nacht die Dämonen scharen und sich die Neuigkeiten erzählen. Das geschah gewöhnlich im Abqar-Tal, direkt hinter dem Haus. Eine Hochzeit hier, eine Reise dort, ein Greis auf dem Abtritt, eine Jungfrau im Badehaus, ein schwarzer Schäfer am Nachmittag: Niemand war vor den Streichen der Dschinns sicher. Die Zärtlichkeit ihrer hoffnungs- und angstbeladenen Gespräche hätte nicht mal mit der größten Mühe die Schwelle des Schlafzimmers zu überwinden vermocht: Das Ohr, das sie belauscht hatte, konnte kein menschliches gewesen sein.
In den Tagen der gedämpften Gespräche und der Verzweiflung war ihre Zweisamkeit liebevoller denn je. Jahre zurückhaltender und häuslicher Zuneigung tauchten die Augen der Frau in kürzester Zeit in die Farben schamfreier Liebe: Die Iriden blühten auf wie Sonnenblumen. Die Schwangerschaft hatte die Pupillen erweitert. Sie nahmen das Bild ihres Mannes von allen Seiten gierig auf, worauf ihre Wimpern es langsam absenkend nach innen sogen und dort zum späteren Gebrauch aufbewahrten. Es war eine fast fromme Bewegung. Baba Baluks Blick und Liebkosungen wurden sanfter und jünger.
Wenn er sie streichelte, dann streichelte jede Falte seiner Hände sie mit, und sie wurden zu Wasserstrudeln, die sich über die Haut der Frau ergossen und ihre Mundwinkel zum Kräuseln brachten. Sie erschauderte. Seine Fingerspitzen waren zärtlicher als katzbalgende Windstöße im Apfelbaum, der allerdings nicht so erröten konnte wie sie.
Ihre Haut – eine Landschaft der Helle, worin ihr Gesicht den Osten bildete: Dort gingen zwei Sonnen wie Röten auf – und den Westen formten ihre Brüste: Sie gingen dort unter wie zwei Aureolen. Sie war so weiß, als ob sie einzig im Finstern lebte, nie das Tageslicht sah noch das Tageslicht sie. Vielleicht aber war sie es auch, weil sie so oft ins Badehaus ging. Sie war verrückt danach und verbrachte viele Nachmittage dort. Ihre Füße waren so rot wie die Erde, auf der sie ging. Die anderen Frauen, selbst Haselnuß oder Mahagoni, beneideten sie um ihren Alabaster. Ihr Name war Mamurra.
Und nachdem sich die Augen an seinem Bild satt gesehen hatten, preßte sie ihre zerbrechliche Wärme rücklings an seine Brust, wo pochend ein Brief verborgen lag. Seine Arme umschlangen ihren lebentragenden Leib, umfaßten sie wie einen
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