Schrei in der Nacht
sprachen immer nur ein oder zwei Minuten miteinander.
»Nichts, Jen.«
»Nichts.«
»So, ich will die Leitung nicht länger blockieren. Kopf hoch, Jen. Bis morgen.«
Kopf hoch. Sie versuchte, sich die Tage nach einem bestimmten Schema einzuteilen. Da sie sich nachts meist schlaflos herumwälzte oder von qualvollen Träumen heimgesucht wurde, war sie froh, schon bei Morgengrauen aufzustehen. Sie war seit Tagen nicht mehr draußen gewesen. Im Fernsehen gab es frühmorgens eine Jogasendung. Um halb sieben hockte sie gehorsam vor dem Apparat und machte mechanisch die Übungen des Tages.
Um sieben Uhr kam Good Morning, America, das große Nachrichtenmagazin. Sie zwang sich, die Nachrichten zu hören, den Interviews zu folgen. Eines Morgens wurden Bilder von Kindern gezeigt, die verschwunden waren. Einige von ihnen wurden seit Jahren vermißt. Amy… Roger… Linda… Jose… Ein Name nach dem anderen. Jeder stand für ein gebrochenes Herz.
Eines Tages würden sie Elizabeth und Christine hinzufügen: »Kosenamen: Beth und Tina — ihr Adoptivvater fuhr vor drei Jahren, am sechsten Februar, mit ihnen fort. Wenn Sie etwas über ihren Verbleib wissen, rufen Sie bitte folgende Telefonnummer an…«
Auch die Abende hatten ein Ritual. Sie saß auf dem Sofa in der Küche und las oder versuchte fernzusehen.
Gewöhnlich stellte sie irgendeinen Kanal ein und ließ Familienserien, Hockeyspiele, alte Filme über sich ergehen, ohne etwas richtig in sich aufzunehmen. Wenn sie las, wurde ihr nach mehreren Seiten klar, daß sie gar nicht wußte, worum es ging.
In der Nacht vom siebenundzwanzigsten auf den achtundzwanzigsten Februar war sie besonders unruhig.
Es kam ihr vor, als lastete die Stille heute noch schwerer auf dem Haus als sonst. Das eingespielte Lachen bei einem Programm, in dem sich ein Ehepaar mit Tassen und Töpfen bewarf, veranlaßte sie, den Fernseher abzustellen. Sie setzte sich wieder aufs Sofa und starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen. Das Telefon klingelte. Inzwischen ohne Hoffnung, nahm sie ab.
»Guten Abend, Jenny. Hier ist Pastor Barstrom. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, sehr gut.«
»Ich nehme an, Erich hat Ihnen unser tief empfundenes Beileid über den Tod des Babys ausgerichtet. Ich wollte persönlich kommen, aber er sagte, es sei besser, wenn ich noch etwas mit dem Besuch warte. Ist er da?«
»Nein, leider nicht. Er ist verreist, und ich weiß nicht genau, wann er zurückkommt.«
»Ich verstehe. Würden Sie ihn bitte daran erinnern, daß unsere Altenbegegnungsstätte beinahe fertig ist? Er hat am meisten dafür gestiftet, und ich möchte sichergehen, daß er das Einweihungsdatum nicht vergißt. Es ist der zehnte März. Er ist ein sehr großzügiger Mann, Jenny.«
»Ja, ich weiß. Ich werde ihm ausrichten, daß Sie angerufen haben. Auf Wiedersehen, Herr Pastor.«
Das Telefon klingelte um Viertel vor zwei. Sie lag im Bett, neben sich einen Stapel Bücher, und sie hoffte, eines davon würde ihr helfen, die Nacht herumzubringen.
»Jenny.«
»Ja.« War es Erich? Die Stimme klang anders, hoch, angespannt.
»Jenny, mit wem hast du telefoniert? Gegen acht. Du hast beim Reden gelächelt.«
»Gegen acht?« Sie versuchte, nachdenklich zu klingen, versuchte, nicht Wo sind Tina und Beth? zu schreien.
»Moment«, sagte sie, als ob sie überlegen müßte. Sie mußte es wirklich. Sheriff Gunderson? Mark? Sie wagte nicht, einen von ihnen zu erwähnen. Pastor Barstrom.
»Ach ja, Pastor Barstrom hat angerufen. Er wollte dich sprechen, um dich zur Einweihung der Begegnungsstätte einzuladen.« Mit bebenden Lippen und klammen Händen wartete sie auf eine Reaktion. Bloß reden. Damit sie den Anschluß, von dem er anrief, aufspüren konnten.
»Bist du sicher, daß es Pastor Barstrom war?«
»Warum sollte ich es sonst sagen?« Sie biß sich auf die Lippen. »Wie geht es den Mädchen?«
»Sehr gut.«
»Kann ich mit ihnen sprechen?«
»Sie waren sehr müde. Ich habe sie zu Bett gebracht.
Du hast heute abend sehr hübsch ausgesehen, Jenny.«
Ich habe heute abend sehr hübsch ausgesehen… Sie merkte, wie sie am ganzen Leib zu zittern begann.
»Ja, ich war da. Ich habe durchs Fenster geschaut. Du hättest merken müssen, daß ich da war. Wenn du mich liebst, hättest du es spüren müssen.«
Sie starrte auf die Kristallschale, die im Dunkel unheimlich grün schimmerte. »Warum bist du nicht hereingekommen?«
»Ich wollte nicht. Ich wollte nur nachsehen, ob du da bist und auf mich wartest.«
»Ich
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