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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Krueger, der bekannte Künstler aus Minnesota, der bereits als größter amerikanischer Maler seit Andrew Wyeth gefeiert wurde, hat Werke, die nicht von ihm stammen, mit seiner Signatur versehen. Die betreffenden Arbeiten wurden in Wahrheit von Caroline Bonardi gemalt. Wie weitere Nachforschungen ergeben haben, war die verstorbene Caroline Bonardi die Tochter des ebenfalls verstorbenen angesehenen Porträtmalers Everett Bonardi und die Mutter Erich Kruegers.«
    Jenny schaltete das Radio ab. Jeden Augenblick würde das Telefon anfangen zu klingeln. In wenigen Stunden würde es von Reportern wimmeln. Erich würde sie sehen, würde vielleicht die nächsten Nachrichten hören, wenn er nicht schon diese gehört hatte, würde wissen, daß es vorbei war. Und er würde sich zum Schluß an ihr rächen — wenn er es nicht schon getan hatte.

    Blindlings taumelte sie aus der Küche. Was konnte sie tun? Ohne zu wissen, wohin sie ging, stolperte sie in das Wohnzimmer. Die Abendsonne drang in den Raum, fiel auf Carolines Bildnis. Ein unsägliches Erbarmen mit der Frau, die dieselbe betäubende Hilflosigkeit durchgemacht hatte, veranlaßte sie, das Gemälde genauer zu betrachten: Caroline auf der Schaukel, in das dunkelgrüne Cape gehüllt, mit feinen Löckchen in der Stirn. Die Sonne ging unter, die zerbrechlich wirkende Gestalt des kleinen Erich lief auf sie zu.
    Die Gestalt lief auf sie zu…
    Die Sonnenstrahlen tauchten das Zimmer in warmes Licht. Es gab bestimmt einen strahlenden Sonnenuntergang, in roten, orangefarbenen und purpurnen Farben, neben schwarzen Wolken, durchbrochen von gleißenden Lichtstreifen.
    Die Gestalt lief auf sie zu…
    Erich war irgendwo da draußen im Wald. Sie wußte es.
    Und sie konnte ihn nur auf eine Weise zwingen, hierherzukommen.
    Die Stola, die Rooney ihr gehäkelt hatte… Nein, sie war nicht groß genug, aber wenn sie darunter etwas anderes anzog… Die alte Militärdecke von Erichs Vater in der Zedernholztruhe? Sie hatte fast die gleiche Farbe wie Carolines Cape.
    Sie rannte die beiden Treppen zum Speicher hinauf, klappte die Truhe auf, langte hinein, schob die Uniform aus dem Zweiten Weltkrieg zur Seite. Ganz unten lag die Militärdecke, dunkelgrün mit einem Stich ins Khakifarbene, aber sie kam dem Ton des Capes nahe.
    Eine Schere? Im Nähkorb waren Scheren.
    Die Sonne stand tiefer. In wenigen Minuten würde sie anfangen unterzugehen.

    Sie rannte nach unten, schnitt mit zitternden Händen ein Loch in die Mitte der Decke, ein Loch, gerade groß genug, um ihren Kopf durchzustecken, und legte sie sich als Cape über. Dann zog sie die Stola um die Schultern.
    Die Decke hing nun bis zum Boden und würde von weitem genauso aussehen wie ein Cape.
    Ihr Haar. Es war jetzt länger als das von Caroline, aber auf dem Bild trug Caroline es zu einem losen Knoten gebunden. Jenny lief zum Küchenspiegel, drehte ihr Haar, wickelte es zu kleinen Locken um die Finger, befestigte es mit der langen Spange. Caroline neigte den Kopf ein wenig zur Seite, hatte die Hände in den Schoß gelegt, die rechte über der linken.
    Jenny stand an der Westtür der Veranda. Ich bin Caroline, dachte sie. Ich werde wie Caroline gehen, ich werde sitzen wie sie. Ich werde den Sonnenuntergang betrachten, wie sie es immer tat. Ich werde meinen kleinen Jungen betrachten, der auf mich zugelaufen kommt.
    Sie machte die Tür auf und trat ohne Eile hinaus in die frische kalte Luft. Sie schloß die Tür, ging zur Schaukel und drehte sie so, daß sie zur untergehenden Sonne gerichtet war, und setzte sich hinein.
    Sie dachte sogar daran, die Stola so zu drapieren, daß das eine Ende über der Seitenlehne der Schaukel lag. Sie legte die Hände im Schoß zurecht, so daß die rechte in der linken Handfläche obenauf gebettet lag. Dann fing sie an, langsam, ganz langsam zu schaukeln.
    Die Sonne trat hinter der letzten Wolke hervor. Sie war jetzt ein glühender Ball tief am Himmel, kurz davor, unter den Horizont zu sinken. Nun erreichte ihr Rand den Horizont, sie sank tiefer, tiefer, und der Himmel war in Farbe getaucht. Jenny schaukelte weiter.

    Purpurne und rosarote, scharlachrote und orangefarbene und goldene Töne, ein paar zarte Wölkchen, die sich wie Marienfäden im Wind bauschten, ein Wind, der gerade stark genug war, um sie zu bewegen, um in den Kiefern am Rand des Waldes zu rauschen…
    Langsam hin und her schaukeln. Den Sonnenuntergang betrachten. Alles, worauf es jetzt ankommt, ist der Sonnenuntergang. Der kleine Junge wird bald

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