Schrei in der Nacht
Fahrstunden entfernt. Er hatte die Kinder vor mindestens dreizehn Stunden allein gelassen.
Aber wo?
Den ganzen Abend fuhren Autos vor. Maude und Joe Ekers kamen. Die kräftige, resolute Maude beugte sich über Jenny. »Ich weiß nicht, ob Sie mir jemals verzeihen können.« Kurz danach hörte Jenny, daß sie sich am Herd zu schaffen machte. Dann durchzog Kaffeeduft die Küche. Pastor Barstrom kam. »John Krueger machte sich solche Sorgen um Erich. Aber er hat mir nie gesagt, warum. Und später schien Erich ein Vorbild zu sein.«
Der Wetterbericht. »Schneesturm zieht in Richtung Minnesota und Dakota.« Ein Blizzard. O Gott, haben die Mädchen es auch warm genug?
Clyde trat zu ihr. »Jenny, Sie müssen mir helfen. Sie wollen Rooney wieder in die Klinik einweisen.«
Endlich gab es etwas, was sie aus ihrer Lethargie rüttelte. »Sie hat mir das Leben gerettet! Wenn sie Erich nicht erschossen hätte, hätte er mich getötet.«
»Sie hat einem Reporter gesagt, sie hätte es wegen Arden getan«, sagte Clyde. »Helfen Sie mir bitte. Sie übersteht es nicht, wenn sie jetzt eingesperrt wird. Sie braucht mich. Und ich brauche sie.«
Jenny stand unsicher vom Sofa auf, lehnte sich kurz an die Wand, suchte den Sheriff. Er telefonierte. »Laßt mehr Suchplakate drucken. Hängt sie in jeden Supermarkt und jede Tankstelle. Geht auch über die Grenze nach Kanada.«
Als er aufgelegt hatte, sagte sie: »Sheriff, warum wollen Sie Rooney in die Klinik stecken?«
Er sprach wie zu einem Kind. »Jenny, versuchen Sie bitte zu verstehen. Rooney hatte den Vorsatz, Erich zu töten. Sie hat mit einer Flinte in der Hand auf ihn gewartet.«
»Sie wollte mich schützen. Sie wußte, in welcher Gefahr ich schwebte. Sie hat mir das Leben gerettet.«
»Na gut, Jenny. Ich werde sehen, was sich tun läßt.«
Wortlos nahm sie Rooney in die Arme. Rooney hatte Erich seit dem Augenblick geliebt, als er geboren wurde.
Egal, was sie sagte, sie hatte ihn nicht wegen Arden erschossen. Sie hatte ihn erschossen, um sie, Jenny, zu retten. Ich hätte ihn nie kaltblütig töten können, dachte sie. Und sie ebensowenig.
Es war schon spät in der Nacht. Erichs Grundbesitz, die Häuser, die ihm gehörten, alles wurde noch einmal abgesucht. Dutzende falscher Hinweise trafen ein. Es fing an zu schneien, schnelle, stechende Flocken.
Maude machte Sandwiches. Jenny konnte keinen Bissen herunterbringen. Schließlich trank sie ein wenig Brühe. Um Mitternacht ging Clyde mit Rooney nach Haus. Dann fuhren Maude und Joe. Der Sheriff sagte:
»Ich werde die ganze Nacht an meinem Schreibtisch sein.
Ich rufe an, wenn wir etwas hören.« Nur Mark blieb.
»Sie müssen schrecklich müde sein. Fahren Sie doch nach Haus.«
Er antwortete nicht. Statt dessen ging er nach oben und holte Wolldecken und Kissen. Er befahl ihr, sich auf das Sofa vor dem Herd zu legen, und deckte sie zu. Er schob ein neues Scheit aufs Feuer. Er machte es sich in dem großen Sessel bequem und streckte die Beine aus.
In dem trüben Licht starrte sie auf die Wiege mit Feuerholz neben dem Sessel. Sie hatte nicht mehr beten wollen, seit der Kleine gestorben war. Ihr war nicht klar gewesen, wie verbittert sie war. Jetzt… Ich finde mich damit ab, daß ich ihn verloren habe. Aber gib mir bitte die beiden Mädchen wieder.
Kann man mit Gott einen Handel schließen?
Irgendwann in der Nacht döste sie ein, aber das Pochen in ihrer Schulter rief sie immer wieder an die Schwelle des Bewußtseins zurück. Sie merkte, daß sie sich ruhelos hin und her wälzte und kleine wehe Töne von sich gab.
Und dann ließ es nach, das Schmerzgefühl, und auch das Herumwälzen. Als sie nach einer Weile die Augen aufschlug, lehnte sie an Mark, mit seinem Arm um die Schultern und der Decke bis zum Kinn hochgezogen.
Irgend etwas ließ ihr keine Ruhe. Etwas Bestimmtes, das in einem fort versuchte, in ihr Bewußtsein zu dringen, etwas ungeheuer Wichtiges, das ihr immer wieder entglitt, ehe sie es zu fassen bekam. Es hatte etwas mit jenem letzten Bild zu tun und mit Erich, der sie durch das Fenster beobachtete.
Um sieben sagte Mark: »Ich mache jetzt Toast und Kaffee.« Sie ging nach oben und duschte, zuckte heftig zusammen, als der heiße Strahl das Pflaster auf ihrer Schulter traf.
Als sie wieder nach unten kam, waren Rooney und Clyde da. Sie tranken zusammen Kaffee und sahen die überregionalen Nachrichten im Fernsehen. Today und Good Morning, America würden Bilder von den Mädchen bringen.
Rooney hatte den großen
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