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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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dir sagen können. Im Westen lagen die Dünen. Im Norden die Salzmarsch, wo ich Meerlattich gesammelt habe. Und dort ragte der stillgelegte Leuchtturm ins Meer, und meine Mutter saß im Ausschuss des gemeinnützigen Vereins zu seiner Restaurierung.
    Wahrscheinlich brauchte ich ein revidierbares Leben. Hätte ich mich bloß mit diesem einen Leben, meinem ersten Leben, zufriedengegeben, hätte ich seine Grenzen in Ehren gehalten. Ich hätte seelenruhig vor mich hin gelebt, hätte kaum Träume gehabt. Ich hätte versucht, mich davon zu überzeugen, dass ein trauriges und ereignisloses Leben das Angemessene ist. Stattdessen träumte ich. Ich schmückte ganze Räume meiner Vergangenheit mit den Genüssen aus, die ich an anderer Stelle barg. Sogar, dass ich mich in dich verliebt habe, Laura – vor allem , dass ich mich in dich verliebt habe und mir dadurch so verändert vorkam … Die Liebe war mein Gegenargument. Plötzlich gab es in Twelve Hills andauernd irgendwo eine Weihnachtsfeier und geliebte Frauen in Seidenkleidern und Jungen, die in die Mütter anderer Jungen verknallt waren, und weiche Decken für die Babys und Verbrüderungen unter den Männern. Mein Gott, klingt das sentimental, wenn ich es so schildere, aber das war es, was mein zweites Leben mir bescherte.
    Und das Leiden. Sogar das Leiden. Was bringt das Leiden, solange es anonym, monolithisch, völkermordend ist? Das Leiden in meinem Phantasieleben war ein Leiden im Jungenformat. Und so war es besser , weil ich es ertragen konnte. Ich musste kein halber Selbstmörder mehr sein, der nur ein halbes Leben lebt oder weniger gar – der nicht die bedrohlichen, nur die angenehmen und leichten Momente zulässt – die stets in der Unterzahl sind. Ich musste nicht mehr nur halb am Leben sein. Ich musste kein halber Selbstmörder sein wie mein Vater.
    Meine Augen sind geschlossen; wieder betritt er blind und mit ausgestreckten Händen die Küche und tastet in der Luft nach der Tür des kleinen Kühlschranks, der bei uns immer halb leer war. Vater. Ich sage ihm, er soll sich hinlegen. Ich bring’s dir , sage ich.
    Könnten wir doch nur wissen , könnten wir doch nur vorgewarnt werden, dann könnten wir uns unser ganzes verstreutes Hab und Gut zurückholen, bevor der Tod die Zwangsvollstreckung beginnt. Habe ich den Eindruck erweckt, dass ich mich bemüht hätte? Hier ist eine Geschichte, an die ich mich erinnere:
    1994. Es ist Sonntag. Ich fahre in einem geliehenen Auto nach Südosten. Es ist ein gelber Pontiac Firebird, ein Liebhaberwagen mit einer wirklich genialen Anlage, in deren Tapedeck ich soeben auf unzweideutig sinnliche Weise eine Aerosmith-Kassette geschoben habe. Ich bin sechsundzwanzig, ich klopfe am Lenkrad den Takt mit. Gerade habe ich die Grenze nach Massachusetts passiert und nehme jetzt den Mohawk Trail, die längere Route durch den Staat, eine Straße, die ich wegen der Aussicht vom Mount Greylock mag und wegen des kleinen Ladens, der wie ein buddhistischer Tempel dasitzt und von allen Seiten den Wind abwehren muss.
    Ich bin spät dran. Schon vor Tagen, das hatte ich meinem Vater versprochen, wollte ich in Dorchester sein. Er soll am Montag auf beiden Augen am Star operiert werden, und er braucht mich, um ein paar Dinge zu regeln. Die Verspätung wäre ja noch verzeihlich – den Grund dafür weiß ich nicht mehr –, aber die Panoramastraße zu nehmen ist es nicht. Und dennoch fahre ich ohne Eile. Seitdem seine Sehkraft nachzulassen begann, habe ich meinen Vater nicht mehr besucht, und wenn ich eintreffe, werde ich betrüblich unvorbereitet sein auf seine Behinderung. Ich habe eine Freundin – nicht die Ehefrau, nicht diese Eine –, nein, ein weitaus weniger ernstzunehmendes Mädchen namens Angela. Mit ihrem Firebird bin ich gerade unterwegs. Mit Angela habe ich im letzten Studienjahr in Mune zusammen Spanisch gepaukt. Ein paar Jahre nach unserem Abschluss spürte sie mich auf, bis ich irgendwann nachgab und mit ihr ins Bett ging, und in diesem Stadium verbringen wir viel Zeit miteinander, zumeist nackt. Darüber denke ich nach – ich denke an Angela –, während es runtergeht ins Pioneer Valley, wobei ich das leuchtend bunte Laub links und rechts der Route 91 kaum zur Kenntnis nehme. Komm bald wieder , hatte mich Angela am selben Morgen im Bett gebeten. Versprich mir, dass du bald wieder da bist.
    Ich liebe Angela nicht. Ich habe ihr das auch gesagt, um späteren Schadenersatzforderungen vorzubeugen. Sie sagt, das sei okay für sie. Sie

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