Schsch!
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Karen Rose
Schsch!
Baltimore, Montag, 23. Dezember, 11.00 Uhr
Reden, immer reden. Lasst mich doch in Ruhe.
Alle Leute, die in ihr Zimmer kamen, redeten auf sie ein, aber Lana sprach nicht. Denn sie wusste, was geschehen würde, falls sie den Mund aufmachte.
Sie war nicht sicher, wie lange sie schon hier war. Ihr Kopf tat weh. Das Denken fiel ihr schwer.
Und das hauptsächlich, weil alle Leute ständig redeten. Diesmal waren es der Arzt und die Frau, die keine Krankenschwester war. Sie hieß Heidi. Sie strich Lana über das Haar, legte die Hand an ihre Wange und lächelte. Wie Lanas Mama es immer getan hatte. Bevor sie krank wurde.
Dass der Mann ein Arzt war, wusste sie, weil er einen weißen Kittel trug und immer das Ding dabeihatte, mit dem er nach ihrem Herzen hörte. Das Stethoskop. Er hatte es ihr hingehalten und ganz langsam »Ste-thos-kop« gesagt, als sei sie zu doof, um zu kapieren.
Aber ich bin nicht doof. Gar nicht. Ich weiß schon eine Menge.
Ihren Namen zum Beispiel. Ihren Geburtstag. Bald wurde sie sieben. Sie wusste, dass sie in den Vereinigten Staaten war. Und in einem Krankenhaus. Und dass ihre Hände gefroren gewesen waren. Lana blickte auf die dicken Verbände. Ihre Hände taten immer noch weh, aber nicht mehr so schlimm wie vorher.
Lana wusste, dass sie eine Schwester hatte. Und keine Mutter. Nicht mehr jedenfalls. Auch keinen Papa.
Papa, Mama. Bitte kommt wieder. Lasst mich nicht hier allein!
Aber sie wusste ebenso, dass sie nie wiederkommen würden. Weil sie tot waren.
Am liebsten hätte sie geweint, aber sie traute sich nicht. Die Pflegerin war hier. Die Pflegerin war immer hier. Sie zog sich nicht mehr an wie eine Pflegerin, aber sie war hier.
Schschsch.
Die Pflegerin ging immer ganz, ganz langsam am Fenster vorbei und legte den Finger auf ihre Lippen.
Sei schön still, Lana. Sag nichts. Du weißt ja, was ich sonst tue.
Lana wusste genau, was sie sonst täte. Sie wusste ja auch, was sie schon getan hatte.
Der Arzt und die Frau redeten weiter und weiter, doch Lana versuchte, sie nicht wahrzunehmen.
Bitte geht doch.
Sie glaubten, dass sie nicht sprechen konnte, aber das stimmte nicht. Lana konnte sprechen. Sie hätte sie so gerne angefleht, ihr zu helfen, aber das ging nicht. Wegen der Pflegerin.
Oh, nein. Nein.
Lanas Herz begann zu rasen.
Sie ist wieder da.
Die Pflegerin stand vor dem großen Fenster draußen im Flur und hielt das Baby auf dem Arm. Lanas Schwester. Das Baby wusste noch nicht, dass die Pflegerin böse war. Es wusste nichts von Mama und Papa. Es war doch noch so klein.
Die Pflegerin blieb im Türrahmen stehen und strich dem Baby leicht mit den Fingern über das zarte blonde Haar. Dann legte sie einen Finger an die Lippen und sah Lana warnend an. Mama hatte geglaubt, dass die Pflegerin ein guter Mensch war, aber Mama hatte sich geirrt.
Und nun wusste Lana nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nur, dass sie kein Wort sagen durfte, weil ihre kleine Schwester sonst sterben würde. Das hatte die Pflegerin ihr gesagt. Und Lana glaubte ihr.
»Schätzchen?« Heidi ging neben ihrem Bett in die Hocke und hielt ihr Kleider hin. Eine Hose und einen Pulli. Schuhe und einen neuen Mantel. In Kindergröße.
Die Sachen sind für mich.
Wo ist mein Mantel?
Dieser Mantel war hässlich braun. Lanas Mantel war schneeweiß und aus echtem Fuchspelz gewesen. Sie und Mama hatten ihn ausgesucht, bevor sie von zu Hause weggegangen waren.
Ich möchte wieder nach Hause. Bitte, Mama, ich möchte nach Hause.
Heidi hielt ihr den Pulli mit einem aufmunternden Lächeln hin. Lana nickte, und Heidi zog ihr das Krankenhausoberteil aus und das neue an, und endlich verstand Lana. Sie würden gehen.
Wieder begann ihr Herz, schneller zu schlagen.
Vielleicht weiß die Pflegerin nicht, dass ich weggehe. Dann kann ich es sagen. Dann kommt jemand und hilft mir.
Doch als sie aufblickte, sank ihr der Mut. Die Pflegerin stand noch immer am Fenster. Sie verengte die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf, während sie dem Baby über das Haar strich.
Lana nickte. Sie hatte verstanden. Sie würde nichts sagen.
Montag, 23. Dezember, 11.50 Uhr
Es tat gut, wieder hier zu sein.
Schön, wieder hier zu sein.
Ungefähr zehnmal hatte Assistant States’s Attorney Daphne Montgomery diese Worte in der vergangenen Viertelstunde gesagt – die Zeitspanne, die sie gebraucht hatte, um die Eingangshalle der Polizeizentrale von Baltimore zu durchqueren, mit dem Aufzug hinaufzufahren und durch den Flur zur
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