Schuechtern
determiniert sein sollte, wäre ich vermutlich weniger schüchtern geworden, wenn diese Saat nicht auf fruchtbaren Boden gefallen wäre.
Wenn ich Fotos aus meiner frühesten Kindheit betrachte, so kann ich beim Anblick des untergewichtigen Zwergs, zu dem ich rückblickend ‹Ich› sage, noch keine Anzeichen besonderer Schüchternheit entdecken. Im Gegenteil, fast kommt es mir vor, als schaute ich besonders keck in die Kamera − was aber auch nicht weiter verwunderlich ist, schließlich zeigen Kinder in den ersten Lebensmonaten prinzipiell noch keine Anzeichen von Schüchternheit. Zum Glück: Wenn man sich als Neugeborener beim Anblick einer nackten Frau schämen würde, wären die Überlebenschancen nicht allzu groß.
Tatsächlich lebt der Säugling in den ersten Monaten seines Lebens in einem psychischen Zustand, in dem es noch keine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Selbst und Umwelt gibt, und in dem Gefühle wie Scham und Schüchternheit daher schlechterdings unmöglich sind − schließlich setzen diese ein Gefühl der Beobachtung und Wertung durch andere voraus. Sigmund Freud bezeichnet diesen Zustand als Stadium des ‹primären Narzissmus›, der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget verwendet den Begriff des ‹radikalen Egozentrismus›; in der Sprache des deutschen Idealismus könnte man, metaphysischer, auch von einem Zustand des ‹absoluten Seyns› sprechen. Das Kind ist all-eins mit seiner Wahrnehmung, es empfindet sich als identisch mit seiner Umwelt und kann daher noch keinen distanzierenden Blick auf sich selbst oder andere werfen. Erst in dem Moment, den Friedrich Hölderlin als «Ur-Theilung» bezeichnet, wird ein Gefühl der Nicht-Identität mit der Umgebung (die Ur-Teilung ) und damit auch die Angst vor deren Urteil möglich: «Wie ist aber Selbstbewußtseyn möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegenseze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesezten als dasselbe erkenne.»
Im Alter von vier bis acht Monaten beginnt das Kind in der Regel zu fremdeln, zeigt also erste Anzeichen sogenannter ‹ängstlicher Schüchternheit› (fearful shyness) gegenüber anderen Menschen. Doch erst mit eineinhalb bis zwei Jahren − in jenem Alter also, in dem das Kind beginnt, sein Ebenbild im Spiegel zu erkennen − stellen sich allmählich komplexere Schuld- und Schamgefühle ein. Tätigkeiten, die für das Kind zuvor noch ungebrochen lustbesetzt waren wie das Herumspielen an den eigenen Genitalien oder das Grabbeln in den Exkrementen, werden von Eltern und Erziehern nun negativ bewertet, die von diesen verhängten Verbote werden allmählich internalisiert, die Aufspaltung der Psyche in ein Es, ein Ich und ein Über-Ich (um die Freudschen Kategorien zu verwenden) beginnt: Es kommt, wie Anna Freud dies nennt, zu einer Umkehrung der ursprünglichen, frühkindlichen «Exhibitionslust».
Gegen Ende des vierten Lebensjahrs lernen Kinder, sich in andere Menschen hineinzuversetzen: Sie begreifen, dass diese von der eigenen Wahrnehmung abweichende, kritische Sichtweisen auf ihre Person haben können. Die Form der Befangenheit, die sich nun entwickelt, wird auch ‹selbst-aufmerksame Schüchternheit› (self-conscious shyness) genannt, da sie, in den Worten des Psychologen Klaus R. Scherer, «ein Bewußtsein von einem eigenen Selbst und die Fähigkeit voraussetzt, die Perspektive des anderen einzunehmen und damit sich selbst als Objekt ihrer Aufmerksamkeit zu erleben.» Für die Eltern ist diese neue Form der kindlichen Befangenheit oft frappierend: Obwohl sie ihre Tochter, ihren Sohn im Familienkontext als offen und redselig erleben, verstummt das Kind in Gegenwart anderer Menschen abrupt, klammert sich an den Rockzipfel oder das nächstbeste elterliche Hosenbein und ist außerstande, sich für ein Geschenk zu bedanken, auf Wiedersehen zu sagen oder gar ‹der Tante› einen Kuss zu geben. Selbstkritische Eltern denken vermutlich, sie hätten bei der Erziehung etwas falsch gemacht – in Wirklichkeit hat ihr Kind gerade einen wichtigen entwicklungspsychologischen Schritt vollzogen.
Parallel zu den kognitiven Fähigkeiten entwickelt sich also auch das Potential zur Schüchternheit: Je besser sich das Kind in andere hineinzudenken vermag, desto leichter fällt es ihm, deren Urteile über sich selbst zu antizipieren oder zu imaginieren. Diese Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt normalerweise in der Pubertät, also ausgerechnet in jenem
Weitere Kostenlose Bücher