Schuechtern
BEDIENUNG ZUR SCHNECKE MACHT, DEN GESCHÄFTSFÜHRER KOMMEN LÄSST, DEN KOPF DES OBERKELLNERS UND DIE ENTLASSUNG DES KOCHS FORDERT UND SCHLIESSLICH DAS VERDAMMTE RESTAURANT, NEIN DEN GANZEN VERMALEDEITEN HOTEL- UND GASTSTÄTTENVERBAND AUF SCHMERZENSGELD IN SECHSSTELLIGER HÖHE VERKLAGT, das und nichts anderes erwarte ich von meiner Tochter. Leider bin ich ihr in dieser Hinsicht ein denkbar schlechtes Vorbild.
Dabei gab es durchaus vaterähnliche Figuren in meinem Leben, die deutlich unschüchterner auftraten als mein leiblicher Erzeuger. Doch dienten sie mir, soweit ich das im Rückspiegel der Erinnerung beurteilen kann, nicht als selbstbewusste Rollenvorbilder, sondern schüchterten mich im Gegenteil eher weiter ein − sei es, weil ich auf dem abschüssigen Pfad der Persönlichkeitsentwicklung schon längst die Abzweigung in Richtung Schüchternheit genommen hatte, sei es, weil meine genetische Disposition sowieso keine andere Route zuließ.
Die wohl prägendste unter diesen Vater- oder besser Übervaterfiguren war der Dirigent des christlichen Knabenchors, in dem ich etliche Jahre meiner Kindheit, in zugigen Altarräumen stehend und protestantisches Liedgut krähend, zubringen musste. Wenn ich an ihn denke, fällt mir stets die Figur des grässlichen Alten aus der Edgar Allan Poe-Geschichte «Das verräterische Herz» ein, der sterben muss, weil der Erzähler den Blick seines durchdringenden, blassblauen Geierauges nicht mehr ertragen kann. Dabei könnte ich nicht einmal sagen, ob unser Chorleiter tatsächlich blaue Augen hatte; die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Alten bestand vor allem in der irrationalen Kontrollangst, die er uns, einer Gruppe von vielleicht achtzig vorpubertären Knaben, allein mittels seiner Gegenwart einzuflößen vermochte. Hinter seinem Konzertflügel thronend, den Blick nach Aasvogelart durch den Chorsaal schweifen lassend, quälte er uns dreimal pro Woche durch mehrstündige Marathonproben, in denen wir vorzugsweise vom nahenden Weltende, von Christi Kreuzestod sowie unserer eigenen sündhaften Kreatürlichkeit trällerten – und trotzdem kamen wir, wie der wahnsinnige Erzähler aus der Poeschen Schauergeschichte, immer wieder.
Natürlich wäre niemand von uns je auf den Gedanken verfallen, unseren Chorleiter umzubringen; das wäre allerdings auch vollkommen sinnlos gewesen, denn er verfügte über mehr Augen und Ohren als der KGB. Zum einen gab es da seine Sekretärin und rechte Hand, eine ausnehmend hohlwangige Dame, die einem James Bond-Film aus der Zeit des Kalten Kriegs entsprungen zu sein schien. Als russische Doppelagentin wäre sie eine wahre Idealbesetzung gewesen; im Geiste nenne ich sie daher Agentin Babajaga. Agentin Babajaga wusste stets Bescheid über unsere Schulnoten, sie ermahnte uns, wenn wir einen schmutzigen Hemdkragen hatten, oder wenn es ihrer Meinung nach an der Zeit für uns war, zum Friseur zu gehen («Wir sind schließlich ein Knaben chor»); und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie irgendwo in ihrem Aktenschrank ein großes, in Schweinsleder gebundenes Buch gehabt hätte, in dem all unsere Sünden und geheimsten Gedanken notiert gewesen wären.
Vor allem aber beäugten und belauschten wir Chorknaben uns alle ständig selbst: Wir erfüllten in geradezu vorbildlicher Weise das von Michel Foucault beschriebene Konzept des Panoptismus, demzufolge der Mensch in der modernen Disziplinargesellschaft die Unterdrückungsverhältnisse soweit verinnerlicht hat, dass er zu seinem eigenen Überwacher, «zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung» geworden ist. Eine solche Selbstkontrolle erfordert eine Spaltung des Ichs in Überwacher und Überwachten; und es ist gerade dieses innere Räuber- und Gendarm-Spiel, welches dem Soziologen Georg Simmel zufolge den Gefühlen der Scham und der Schüchternheit zugrunde liegt: «Das äußere Vehikel bleibt immer die Aufmerksamkeit anderer, die freilich durch eine Spaltung unser selbst in ein beobachtendes und ein beobachtetes Teil-Ich ersetzt werden kann», schreibt er in «Zur Psychologie der Scham»: «Wie wir uns […] beobachten, beurteilen, verurteilen, wie Dritte es tun, so verpflanzt sich auch jene zugespitzte Aufmerksamkeit anderer, an die sich das Schamgefühl knüpft, in uns selbst hinein.»
Eine der plumperen, aber nichtsdestotrotz effektiven Disziplinierungsmaßnahmen, denen wir unterworfen waren, bestand darin, dass wir während der Proben Zeugnis über unsere bedingungslose Liebe zum Chor ablegen mussten. Dies
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