Schuechtern
suche ich, wie erwähnt, tunlichst zu vermeiden; als meine hochschwangere Frau vor der Geburt unserer Tochter einen Blasensprung hatte, musste sie den Krankenwagen rufen, weil es mir unhöflich schien, die Rettungsstelle mit diesem Problem zu belästigen.
1995, eigentlich ein Jahr voll persönlicher Katastrophen, wird im Pantheon meiner Lieblingsjahre dennoch auf ewig einen Ehrenplatz einnehmen, denn in diesem Jahr erhielt ich meinen ersten E-Mail-Account: ein Quantensprung in der Geschichte der Telefonievermeidung. Leider benötige ich auch zum Verfassen elektronischer Botschaften unbotmäßig lange, da ich aus Furcht, den Empfänger durch unbedachte Wortwahl zu verletzen, selbst bei unwichtigen Mails an den Formulierungen feile, als handelte es sich um einen Beitrag zum Jahrbuch der Deutschen Lyrik; es fehlt nicht viel, und ich würde auch auf Spam-Mails freundliche Absagen verschicken («Herzlichen Dank für Ihr ebenso attraktives wie wohlfeiles Angebot, aber bevor ich ein solches Medikament benötige, bräuchte ich erst eines gegen Schüchternheit»). Wenn mich ein Zauberkünstler im Rahmen einer Vorführung als Demonstrationsobjekt auf die Bühne holte, würde ich umgehend und ohne Zutun des Magiers in zwei Hälften zerfallen oder mich in einen Hasen verwandeln. Wenn ich den FAZ -Fragebogen beantworten müsste, dann stünde bei mir in der Rubrik Ihre Lieblingshelden in der Dichtung der Mann aus Kafkas Türhüter-Legende, der sein ganzes Leben neben einer offenen Tür sitzt und schüchtern darauf wartet, dass man ihm Einlass gewährt, ganz oben.
Was möchten Sie sein? Eine Schildkröte.
Ihre Lieblingsblume? Pflänzlein Rühr-mich-nicht-an.
Ihr Lieblingsvogel? Vogel Strauß.
Ihre Lieblingstugend? Bescheidenheit.
Ihr größter Fehler? Bescheidenheit.
Ihre gegenwärtige Geistesverfassung? Schüchtern.
Allerdings bin ich mit dieser Eigenschaft nicht gerade allein: Angeblich leidet jeder fünfte Bundesbürger unter Schüchternheit, in den USA bezeichnen sich 42 Prozent der Bevölkerung als schüchtern, in Japan wollen es sogar 57 Prozent sein. Die Sozialphobie, also die schwere, pathologische − oder zumindest pathologisierte − Form der Schüchternheit, stellt nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit inzwischen die dritthäufigste Form der psychischen Erkrankung in der westlichen Welt dar. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich daher, um eine Formulierung der Soziologin Susie Scott zu verwenden, eine ganze «Schüchternheitsindustrie» herausgebildet. Pharmaunternehmen verdienen mit der medikamentösen Behandlung sozialer Angststörungen ein Vermögen: Allein die britische Firma GlaxoSmithKline nimmt mit dem Verkauf von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern alljährlich an die drei Milliarden Dollar ein. Daneben sollen unzählige Selbsthilfe-Bücher mit Titeln wie Das Buch für Schüchterne, Frei von Angst und Schüchternheit oder Endlich mit Frauen flirten Schüchternen helfen, «Wege aus der Selbstblockade» zu finden, «[s]oziale Ängste [zu] besiegen» beziehungsweise «Schüchternheit und Angst vor dem Flirten mit einfachen Übungen erfolgreich selbst zu überwinden». Wer schüchtern ist, so scheint es, befindet sich in zwar unauffällig-zurückhaltender, aber überraschend großer Gesellschaft.
Doch trotz der Allgegenwart dieses Phänomens fühle ich mich als Schüchterner bisweilen wie ein Auslaufmodell. Vielleicht liegt es daran, dass wir Schüchternen naturgemäß leiser und bescheidener auftreten als unsere unschüchternen Zeitgenossen und daher im öffentlichen Diskurs weniger Aufmerksamkeit bekommen, als uns zahlenmäßig zustehen würde; auf jeden Fall lässt die zeitgenössische westliche Kultur der Schüchternheit immer weniger Raum und hat analog dazu für schüchterne Menschen immer weniger Verständnis.
Wer sich in unserer zunehmend flexibilisierten und kompetitiven Arbeitswelt durchsetzen will, der sollte sich möglichst offensiv selbst vermarkten, der sollte ständig neue Kontakte knüpfen, der tut auch nicht schlecht daran, den hinter ihm auf der Karriereleiter kletternden Kollegen hin und wieder gezielt auf die Finger zu treten − alles Dinge, die Schüchternen nicht gerade leichtfallen. Und auch jenseits der Arbeitswelt herrscht häufig das Recht des Selbstbewussten oder, aus schüchterner Sicht, des Schamlosen: Die Talkshows privater wie öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten befördern rund um die Uhr einen Kult der Selbstentblößung und des Seelenstriptease, der
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