Schuechtern
verpassten Beförderungen, traumatischen Bürosituationen oder Pech bei der Partnersuche: Dies sind offenbar die sozialen Indikationen, die den Einsatz des fraglichen Mittels bei Männern nahelegen. Zeigen die Bilder hingegen eine Frau, so schildern die Werbetexte eher private, persönliche Probleme: die Verarbeitung eines Unfalls, den Verlust eines geliebten Menschen, ‹emotionale Taubheit›. Die Adressatin dieser Anzeigen, so scheint es, ist eher die unglückliche Hausfrau, die − wie Betty Draper, die Gattin des chronisch aushäusigen Werbeagenten Don Draper aus der amerikanischen TV-Serie Mad Men − den ganzen Tag und manchmal auch die halbe Nacht darauf wartet, dass ihr Herr Gemahl endlich heimkehrt und sie aus dem Karussell jener finsteren Gedanken erlöst, das sich unweigerlich zu drehen beginnt, wenn man zu lange auf die Blümchentapete gegenüber der Sofaecke gestarrt hat.
Nehmen wir kurz in dieser Sofaecke Platz, schieben die Psychopharmaka beiseite, werfen einen Blick auf das bisher Gesagte und ziehen ein vorläufiges Resümee. Was ist Schüchternheit? Dieses schwer zu fassende Phänomen, so viel scheint immerhin deutlich geworden zu sein, ist in der Regel kein vorübergehender Zustand, sondern eher, um eine Formulierung Martin Heideggers zu verwenden, eine «Grundstimmung». Die Frage, ob jemand an dieser Stimmung teilhat oder nicht, lässt sich objektiv nur schwer beantworten, da sie sich zum einen nur in bestimmten Situationen offenbart und zum anderen in besonderem Maß diskursiv konstruiert ist: Wer sich als schüchtern bezeichnet oder so von anderen bezeichnet wird, der ist, zumindest bis das Gegenteil bewiesen ist, schüchtern. Zudem ist die Definition der Schüchternheit enormen historischen Wandlungen unterworfen: Die Frage, wer in welcher Situation als schüchtern gilt, sagt viel über die sozialen Rollenerwartungen aus, die Männern und Frauen sowohl im Berufsleben als auch im Alltag entgegengebracht werden; Schüchternheit ist mithin eine Art Lackmustest für die Gleichheit und Offenheit einer Gesellschaft. Und: Sie verdankt sich, dem eingangs geschilderten privatmythologischen Gleichnis zum Trotz, ganz sicher nicht dem Wirken eines tonganischen Häuptlings. Woher aber rührt sie dann? Welche Erlebnisse können zur Entwicklung der Schüchternheit führen? Ist sie angeboren? Wie wird man schüchtern?
Vom Ei Ich vermute, dass ich schon schüchtern geboren wurde. Ja manchmal erscheint es mir wie ein Wunder, dass ich überhaupt geboren wurde; manchmal stelle ich mir vor, dass schon jenes Spermium, das, zusammen mit der Eizelle meiner Mutter, den Nukleus und Ursprung meiner Existenz und damit auch meiner Schüchternheit bilden sollte, ziemlich schüchtern gewesen sein muss. Ich stelle mir vor, wie das Spermium kurz vor meiner Empfängnis scheu in einer Ecke des Eileiters herumstand und dabei inständig hoffte, in dem Gedränge bloß keinem der anderen dreihundert Millionen Spermatozoen auf die Geißel zu treten. Und dieses Spermium war immerhin das selbstbewussteste von allen! Schließlich war es das einzige, das sich letzten Endes ein Herz oder besser: einen Zellkern gefasst und sich getraut hat, in die Eizelle meiner Mutter einzudringen, während die anderen Spermatozoen schüchtern daneben standen und wieder mal allein nach Hause gehen mussten.
Wobei, ich muss mich korrigieren: Es muss wenigstens ein Spermium gegeben haben, das noch selbstbewusster − oder zumindest etwas weniger schüchtern − war als jenes, aus dem ich meinen Anfang nahm: nämlich das, aus dem mein Zwillingsbruder entstanden ist. Wir sind zweieiige Zwillinge, und ich hoffe, ich trete meinem Bruder nicht zu nahe, wenn ich behaupte, dass er ganz anders ist als ich; und das heißt nicht zuletzt: Er ist weniger schüchtern. Er hat vor mir geheiratet, er hatte vor mir eine Freundin, und als wir im zarten Alter von vierzehn Jahren Tanzstunden nahmen und ich mir am letzten Unterrichtstag endlich ein Herz fasste und ein Mädchen fragte, ob sie mit mir zum Abschlussball gehen wolle, da hatte sie gerade meinem Bruder zugesagt.
Auch bei unserer Geburt war er natürlich der Erste. Eine von unserer Mutter immer wieder zum Besten gegebene Anekdote besagt sogar, dass ich seinerzeit beinahe in ihr vergessen worden wäre, weil ich mich so klein und scheu in einer Ecke der Gebärmutter versteckt hielt, dass ich leicht zu übersehen war (der Traum eines jeden Schüchternen; in den Worten von Friedrich Nietzsche: «nicht
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