Schuhwechsel
die sie einmal war, nicht mehr sein durfte, wollte sie nicht mehr so richtig leben. Sie wurde schwermütig und betete den ganzen Tag nur noch um die Vergebung ihrer Schuld und die Erlassung der Sünden.
Sie starb wenige Jahre später an gebrochenem Herzen.
Der Vater war dominant und arbeitssam. Er traf sich mit dem Menschen aus dem Dorf, war höflich und freundlich, um keinen Argwohn zu erwecken. Berta gegenüber war er sehr streng und unbarmherzig. Er kontrollierte sie ständig und behandelte sie wie eine Gefangene. Berta hatte nie den Eindruck, dass ihm der Verlust seiner Familienmitglieder besonders schmerzte. Er schien kalt und ohne Gefühle.
Als Berta heiratete, hatte sie schon fast vergessen, wer sie war und woher sie kam.
Sie bekam drei Kinder, zwei Sohne und eine Tochter. Sie tat was man von ihr erwartete und erledigte ihre Aufgaben. Sie sehnte sich nach einer Vertrauten, traute sich aber nie zu vertrauen.
Kurze Zeit nachdem der Vater gestorben war, erkrankte Berta an Krebs. Um gesund zu werden, begab sie sich neben der Schulmedizin, in eine psychologische Therapie. Ihre Tochter bestand darauf.
Als ihre Seele das Tor zur Vergangenheit öffnete und sie sich zu erinnern begann, brach sie die Therapie ab. Die Todesangst, die immer noch in ihr steckte, erlaubten ihr nicht darüber zu sprechen.
Aber nun war sie neugierig geworden. Da es aus ihrer Familie keine bekannten lebenden Personen mehr gab und sie selber mit dem Tod zu kämpfen hatte, fasste sie Mut und begann mit Nachforschungen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Mit den Nachforschungen kamen die Erinnerungen. Was sie über ihren Vater und seine Zeit als Nazi erfuhr, ließ sie erschaudern. Er war für den Tod von sehr vielen Menschen verantwortlich. Er war ein Mörder. Ein Mörder und ein Feigling, der sich hinter der Familie versteckte und die Flucht antrat, als sich das Blatt zu wenden begann.
Er nahm ihnen die Identität, die Freiheit und das Zuhause, wobei keiner so genau wusste, welche Verbrechen er wirklich begangen hatte. Selbst seiner Frau gegenüber spielte er ein ständiges Theater. Er hat ihnen alles genommen und sie mit schwerer Schuld belastet. Und trotzdem ist das nichts im Vergleich zu den Menschen, denen er das Leben genommen hatte.
Berta fühlt die Taten des Vaters und die Schuld wie schwarzer Teer an sich kleben. Sie fühlte schon immer, dass da etwas nicht stimmte, aber nun wusste sie was es war.
Die ganze Last der Verbrechen ihres Vaters liegen schwer auf ihrer Seele. Sie betet und büßt, aber die Schuld geht nicht weg. Nun hofft sie auf dem Jakobsweg Vergebung zu finden. Sie ist 73 Jahre alt und möchte einfach nur, dass ihr verziehen werde.
Heute Nacht hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Geschichte erzählt. Einer Fremden. In der Geborgenheit des Dunklen. Sie hat mir ihre Seele gezeigt. Mit allen Ängsten und Emotionen, die sie darin ein Leben lang versteckt hatte.
Während sie erzählte, konnte ich mit Berta fühlen. Teilweise wurde mir schlecht davon. Vor der Angst, die sie ausgestanden haben musste. Vor der Trauer und dem Leid, das sie erlebte und verschweigen musste.
Wir sitzen eng beieinander auf den steinernen Stufen vor der kleinen Kapelle und schauen schweigend in die Nacht.
Tag 9:
von irgendwo dazwischen nach Melide
Heute habe ich tatsächlich länger geschlafen und es ist schon 8.00 Uhr, als ich mir einen schnellen Kaffee ins Gesicht schütte und mich sofort und ohne viel zu reden auf den Weg mache. Die letzte Nacht habe ich noch nicht ganz verdaut.
Die Barfrau überreicht mir einen gefalteten Zettel. „Danke. Berta“, steht mit krakeliger Schrift geschrieben.
„Ich danke dir für dein Vertrauen“, denke ich. „Hoffentlich kannst du dir selbst verzeihen und findest deinen Frieden.“
Dann gehe ich los. Ich muss jetzt gehen. Mich in gleichmäßigem Rhythmus bewegen, um das Gehörte der vergangenen Nacht zu verarbeiten. Bertas Geschichte war wirklich heftig. Einerseits schäme ich mich entsetzlich für mein Vorurteil, andererseits, wenn sie niemanden hinter ihre Fassade blicken lässt und jeden nur so lange ungefragt volllabert, bis er die Flucht ergreift, braucht sie sich nicht wundern, wenn sie keine Freunde findet. Ein Teufelskreis.
Was für ein Trauma.
Unvorstellbar, wie viel Leid eine menschliche Seele ertragen kann.
Berta fühlt sich für das Fehlverhalten ihres Vaters so schuldig, dass sie ihre ganze Lebenskraft dafür einsetzt, diese Schuld zu sühnen. Vielleicht passieren ihr
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