Schuhwechsel
„die letzte Nacht hab ich noch nicht ganz verdaut, aber meine Kleine lebt und ich bin echt froh darüber.“
„Das kannst du auch sein, denn ein anderes kleines Mädchen in meiner Nachbarschaft hatte nicht so viel Glück.“
„Was meinst du damit?“ fragte ich sie und erstarrte.
„Heute Nacht ist ein 7 Monate altes Mädchen vermutlich am Kindstod gestorben. Die Familiensituation ist genau dieselbe wie bei dir. Sie war das dritte Kind und hatte noch zwei ältere Geschwister im gleichen Alter wie deine. Als ich das von dir gehört habe, dachte ich erst, die hätten irgendetwas verwechselt, aber es stimmt.“
Mir wich das Blut aus der Haut.
„Weiß man schon um wie viel Uhr dieses Baby gestorben ist?“ fragte ich mit trockener Zunge.
„Irgendwann morgens. Es war noch warm, als die Mutter es fand.“
Eben komme ich an einem Haus vorbei, aus dem dichter, dunkler Qualm steigt. Da ich gestern Abend in unserer Bar schon einmal Feuerwehr spielen durfte, als eine Pfanne mit Öl Feuer fing und bestimmt zwei Meter hoch brannte, gehe ich entschlossen in das Haus hinein.
Ich rufe laut, ob hier jemand ist und sehe ein uraltes Mütterlein an einem großen feuergeschürtem Herd sitzen, wie sie versucht, diesen in Gang zu bringen.
Mit einem dürren Ästchen stochert sie in den beklagenswerten Flammen herum und entschuldigt sich dafür, dass sie keinen Abzug hat. Den hat man vergessen einzubauen, als sie diesen schönen neuen Herd bekam. Ich bin sprachlos! Echt! Wie kann man in so einen kleinen Raum, einen derartig großen Herd einbauen und den Kamin „vergessen“??? Die Oma schwebt bei jedem Tee, den sie sich kocht, in akuter Lebensgefahr. Entweder weil sie von den Flammen bedroht wird, oder weil ihr das entstehende Kohlenmonoxid den Gar aus macht.
Wie gut, dass wir in Deutschland so akkurat und ordentlich sind und für jeden Mist ein Gesetz haben.
Nach zwei weiteren Kilometern regnet es Asche. Noch 68 km bis Santiago. Seit ich den Wegstein passiert habe, der noch 100 Kilometer bis Santiago ankündigte, kommt nun alle Kilometer ein Wegstein, der angibt wie weit man noch zu gehen hat.
Der Morgen schreitet voran und langsam wird es warm. Am Straßenrand taucht plötzlich eine Bar auf, mit Stühlen und Tischen im Gras vor dem Haus. Bäume spenden Schatten. Eindeutig: Es wird Zeit für das zweite Frühstück. Wieder einmal bin ich erstaunt: 1 Café con lecche, 1 frisch gepresster Orangensaft, 1 Wasser und ein super fleischiges Croissant kosten 5,10 Euro. Und das kurz vor Santiago.
Annette von Droste-Hülshoff, die Dame auf dem alten 5,Mark Schein und ihres Zeichens Schriftstellerin sagt einmal: „ein gutes Buch schreibt sich von selbst. Man darf es nur nicht stören.“
Nun sitze ich hier, auf einer Wiese unter einem Baum mit leckerem Frühstück um mich herum und schreibe die Erlebnisse meines Jakobsweges in mein Notizbüchlein.
Heute läuft es gut. Hier stört mich nichts. Was einem so alles einfällt auf dem Weg des heiligen Jakobus´…?
Fertig gefrühstückt, es geht weiter. Langsam kehrt Ruhe ein unter meiner Schädeldecke. Mein Hirn scheint komplett leer. Da kommt nichts mehr. Fühlt sich an als liefe ich im Fieberwahn. Die Augen sehen, aber das Gesehene wird nicht in Gedanken umgewandelt. Das Hirn ist still. Die Füße gehen, die Augen sehen, mein Körper bewegt sich, aber ich bin nicht mehr dabei. Fühle keinen Rucksack mehr, kein Knie das schmerzt, nichts wird bewertet oder beurteilt. Stille in meinem Kopf.
Um halb zwei mache ich die nächste Pause und esse in einer Pension, in der gregorianischer Chöre singen, ein Boccadillo mit Schinken und Oliven. Dazu trinke ich Wasser. Wein würde zwar besser passen, aber ich habe noch ein paar Kilometer vor mir und dann wird das nichts mehr. Wein gibt es erst zum Ende des Tages.
Der Chef dieser Pension ist ein witziger Kerl. Er schimpft über die Spanier, die ständig Zimmer reservieren und dann nicht kommen. Das regt ihn auf, wie man deutlich mitbekommt. Ihm sind die Deutschen am liebsten. Die reden nicht lange rum. Wenn die reservieren, kommen sie auch.
Zwei Dänen stehen da und suchen ein Bett. Eigentlich ist er ausgebucht, aber er will die Pilger, die reserviert haben anrufen um zu sehen, ob sie nun kommen oder nicht. Tatsächlich. Zwei mal sechs Reservierungen fallen aus. Er zeigt uns allen laut schimpfend sein Reservierungsbuch. Wild durchgestrichene Blätter zeigen schon sehr deutlich, dass ca. dreiviertel nicht erscheinen. Er gibt den Dänen ein
Weitere Kostenlose Bücher