Schuldig wer vergisst
mach’s mir einfach allein gemütlich«, hatte Jane ihm versichert.
Sie wärmte sich ein Resteessen auf und hörte sich The Archers im Radio an. Danach schaute sie in der Programmzeitschrift nach, was im Fernsehen lief. Als sie feststellte, dass sie keine der aufgeführten Sendungen interessierte, versuchte sie, sich in ihren Schmöker aus der Bücherei zu vertiefen.
Doch sie konnte das Bild nicht aus dem Kopf bekommen, wie sich Brian mit Callie Anson amüsierte: wie sie zusammen das Konzert hörten, danach das köstliche Essen beim Empfang der Livery Company genossen, wie sie mit interessanten und wichtigen Leuten plauderten. Brian würde ihnen Callie vorstellen und mit ihr prahlen. Callie mit ihrem glänzenden braunen Haar und ihrer attraktiven Figur, vermutlich in einem brandneuen Kleid.
Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken – an Weihnachten und an die Jungen.
Sie legte das ausgeliehene Buch, das ohnehin nicht so spannend war, zur Seite, stand auf und ging zum Telefon. Spontan wählte sie Simons Handynummer. Ein Plausch mit ihm war genau, was sie jetzt brauchte, um sich ein bisschen zu trösten. Mütter durften keine Lieblingskinder haben, erst recht nicht bei Zwillingen, und das war bei Jane auch nicht der Fall, nicht direkt. Sie liebte ihre beiden Jungs über alles. Doch Simon war ihr im Temperament viel ähnlicher und von allen Menschen auf der Welt derjenige, der ihre Stimmungen am schnellsten verstand und dann meistens genau richtig darauf reagierte.
»Mum?«, meldete sich Simon, als er ihre Stimme hörte. Er klang überrascht. Und bildete sie sich das nur ein oder klang er wirklich nicht erfreut?
»Hallo, Liebling, ich wollte mich nur mal melden.«
»Ehm … Mum. Kann ich dich später zurückrufen?«
Ihre mütterlichen Antennen, die auch das kleinste Signal empfingen, vibrierten. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Ich bin nur gerade … es geht im Moment schlecht, ja?«
»Ist nicht so wichtig«, versicherte sie ihm. »Du brauchst nicht zurückzurufen.«
»Ist gut, also dann tschüs, Mum.« Er legte auf.
Jane blieb einen Moment reglos stehen und starrte auf den Hörer in ihrer Hand. Was zum Teufel stimmte da nicht?
Charlie würde es wissen. Er und sein Zwillingsbruder hatten sich immer überaus nahegestanden. Jane wählte seine Nummer. Er meldete sich, nachdem es ein paarmal geklingelt hatte.
Nunmehr vorsichtig geworden, fragte sie ihn: »Hast du einen Moment Zeit oder störe ich?«
Charlie lachte. »Ich arbeite gerade an einem Referat. Folglich bin ich über die Unterbrechung hocherfreut, Mum. Was gibt’s?«
Was sollte sie sagen? »Ich hab mich nur über Simon gewundert«, sagte sie. »Ich habe ihn eben angerufen, und er … na ja, ich hab mich nur gefragt, ob irgendwas nicht stimmt.«
»Ach so«, sagte Charlie. »Wahrscheinlich ist er gerade bei Ellie. Und möchte nicht gestört werden, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ellie?«
Am anderen Ende herrschte kurzes Schweigen. »Hat er dir nicht …?«, fing Charlie an. »Oh, Mist.«
»Wer ist Ellie?« Jane hörte, dass ihre Stimme schrill klang, als sie den Namen aussprach, ihn auf der Zunge schmeckte und instinktiv wusste, dass er ihr noch vertraut werden würde.
»Er hat gesagt, er würde mit dir reden. Schon vor Wochen, Mum. Ich dachte, das hätte er auch getan.«
»Mit mir über was reden?« Sie ließ ihre Stimme bewusst ruhig klingen.
»Über Ellie.« Charlie seufzte. »Seine Freundin.«
»Freundin?«
»Er hat sie bei einer Erstsemesterveranstaltung kennengelernt. Sie sind sofort miteinander ausgegangen, und seitdem sind sie unzertrennlich. Er verbringt seine ganze Zeit mit ihr – ich sehe ihn seit Wochen kaum noch.« Charlie seufzte wieder. »Ich dachte wirklich, er hätte es dir gesagt, Mum.«
»Nein«, antwortete sie und spielte mit dem Telefonkabel, indem sie versuchte, die verhedderte Stelle in der Spirale aufzudröseln. »Aber wieso, Charlie? Wieso hat er es mir nicht erzählt?«
Charlie sprach langsam, als wählte er seine Worte mit Bedacht. »Vielleicht dachte er, du bist eifersüchtig.«
»Eifersüchtig?« Jane brachte ein Lachen heraus, das selbst in ihren eigenen Ohren aufgesetzt klang. »Wieso sollte ich eifersüchtig sein? Simon hat immer Freundinnen gehabt. Ihr beide hattet welche. Die ganze Schulzeit hindurch.« Und das stimmte: Es war nur natürlich. Ihre Söhne waren gut aussehende junge Männer aus Fleisch und Blut. Natürlich hatten sie ihre Freundinnen gehabt.
»Freundinnen, ja.« Charlie
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